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Selbst wenn man annahm, daß die Gerüchte stimmten und sich eine Leucrotta in der Gegend aufhielt, würde die Jagd schwierig werden. Die Spuren einer Leucrotta unterschieden sich praktisch in nichts von denen eines Hirsches, und in diesen Wäldern gab es reichlich ausgewachsenes Wild. Nach dem zweiten Tag glaubte Ladin Elferturm den Berichten der Bauern, denn er hatte zahlreiche Körper von Hirschen und Rehen gefunden, die von scharfen, spitzen Zähnen zerrissen und halb aufgefressen zurückgelassen worden waren. Am vierten Tag war er davon überzeugt, daß er die Spuren der Leucrotta von denen der anderen wilden Tiere in dieser Gegend unterscheiden konnte, und daß er und seine Männer dem großen, gefährlichen Tier auf den Fersen waren.

Am Morgen des sechsten Tages hockte sich Ladin Elferturm hin und tastete die Spur mit den Fingerspitzen ab, um zu sehen, wie feucht sie war. Seine Mandelaugen, die von kurzem, schwarzem Haar und einem gepflegten Bart umrahmt waren, hoben sich zu der steilen, gewundenen Schlucht vor ihm. Er wußte, daß die Schlucht, eine enge Klamm mit steilen Wänden, durch die nur zu bestimmten Jahreszeiten Wasser strömte, nur noch eine weitere Öffnung hatte, die weniger als eine Meile nördlich lag.

Mit einem Zeichen teilte Ladin Elferturm seine Männer in zwei Gruppen und schickte die eine Gruppe zum anderen Ende der Schlucht hinunter. Sie sollten einen Waldhang hinabreiten, um den Ausgang zu bewachen. Dann gab er einem seiner Männer eine Botschaft, die er zu Nelltis bringen sollte. Anschließend schlugen Elferturm und seine Männer erstmal ihr Lager auf. Mit nicht geringem Stolz wartete der Jäger auf seinen Herrn.

Nelltis traf knapp vier Stunden später im Lager ein. Begleitet wurde er, wie Ladin Elferturm es gewußt hatte, von seiner Nichte, Kitiara Uth Matar, und einigen treuen Vasallen. Alle trugen ein Lederwams und dazu einiges an Ausrüstung zum Jagen und Fallenstellen. Mit ihrem kurzen, rabenschwarzen Haar und dem selbstverständlichen, stolzen Gang unterschied sich Kit nicht im geringsten von den Männern, die herbeieilten, um sich mit Elferturm zu beratschlagen.

Da Nelltis die letzten paar Tage ungeduldig gewartet hatte, war er auf der Stelle losgeritten, nachdem er die Nachricht erhalten hatte, daß die Leucrotta in der Falle saß. Jetzt brüllte er schroffe Befehle. Die Männer begaben sich eilig an ihre Positionen, um nahe und entferntere Posten an verschiedenen Stellen über der Schlucht einzunehmen.

Elferturm hat seine Aufgabe erfüllt, und zwar gut. Der Jäger warf einen Blick auf Kitiara mit ihrem geröteten, aufgeregten Gesicht. Ihre dunklen Augen verfolgten ihren Onkel, der herumlief und die Männer darauf vorbereitete, die Leucrotta zur Strecke zu bringen. Elferturm wurde von Kitiara nicht einmal mit einem Nicken bedacht.

Innerhalb von Minuten war die Jagdgesellschaft bereit, und man saß wieder auf. Nelltis hatte neben seiner Nichte zwei Männer ausgewählt, die ihn hinein begleiten sollten. Vorsichtig begannen die vier, in die Schlucht hinabzureiten.

Elferturms Aufgabe war, von oben aus Wache zu halten. Es überraschte ihn nicht, zurückgelassen zu werden, aber er ärgerte sich trotzdem. Elferturm fand, er wäre ein besserer Schütze als sein Herr, obwohl alle wußten, daß es nicht so war, und er hatte entgegen aller Hoffnung auf eine Gelegenheit gehofft, Kitiara seine Kunst beweisen zu können, indem er die Leucrotta erlegte.Nelltis und Kitiara lenkten ihre Pferde in die enge Schlucht hinunter, gefolgt von den beiden anderen, deren hauptsächliche Aufgabe darin bestand, Waffen und Ausrüstung zu tragen. Unter Kits Augen saß ihr Onkel ab und prüfte eine noch frische Spur im Sand neben dem flachen Wasserlauf. Mit wilder Befriedigung grinste er zu ihr hoch. Nelltis gab Kit und den anderen das Zeichen, ihre Pferde anzubinden und so leise wie möglich zu Fuß weiterzugehen.

Nelltis von Lemisch trug nur seinen geliebten, reich verzierten Langbogen aus Hanf und Eibenholz, dessen Länge der Größe von Nelltis entsprach. Über eine Schulter hatte er einen Köcher Pfeile geworfen, deren Birkenschäfte mit Gänsefedern und vergifteten Eisenspitzen versehen waren. Kitiara trug den Langbogen, mit dem sie geübt hatte. Er war kürzer, damit sie ihn besser handhaben konnte, und hatte einen schweren Ledergriff.

Leichtfüßig stiegen sie über die Steine und folgten der Schlucht, während sie sich nach Kräften bemühten, im Verborgenen zu bleiben, indem sie hinter Gebüsch und Granitbrocken ständig Deckung suchten. Nelltis und Kitiara trennten sich, so daß jeder auf einer Seite der Schlucht lief und von jeweils einem Gefolgsmann begleitet wurde.

Nelltis hielt sich etwas vor den anderen. Als sie die Schlucht herunterkamen, konnten sie weit oben die anderen Männer ausmachen, die in regelmäßigen Abständen aufgestellt waren. Kit wußte, daß ihr Onkel diesen Moment genoß. In seinem Schloß war ein großer Saal für Tiertrophäen reserviert. Nelltis war stolz auf seinen Schwur, eines Tages von jedem Tier auf ganz Ansalon einen schönen, ausgestopften Kopf zu besitzen. Bei dieser Jagd war er eifrig bei der Sache, denn es waren Monate vergangen, seit Nelltis das letzte Mal etwas zu seiner bereits ansehnlichen Sammlung hinzugefügt hatte.

Jetzt sah Kitiara zu, wie ihr Onkel sich gegenüber an die Wand drückte und Augen und Ohren aufsperrte, um jeden Hinweis auf das Tier wahrzunehmen, das in der Schlucht gefangensaß. Die Erlegung einer Leucrotta würde ihren Onkel, wie Kitiara wußte, für viele Monate zufriedenstellen.

In mancher Hinsicht war Nelltis ein komischer Kauz. Obwohl er unbestreitbar klein und klobig war und einen unpassenden, gezwirbelten Schnurrbart hatte, war er dennoch ziemlich eitel, was sein Aussehen anbelangte. Wie eine verwöhnte Prinzessin konnte er Stunden damit zubringen, Farbe und Schnitt seiner Kleider auszuwählen. Er hatte eine Schneiderin auf der Lohnliste, die ausschließlich dazu da war, ihn mit der neusten Mode zu versorgen.

Kit wußte, daß man Nelltis hinter seinem Rücken wegen seiner Wutanfälle, seiner Gefräßigkeit und seiner Gewohnheit, zuviel zu trinken, früh einzuschlafen und meistens bis in den frühen Nachmittag im Bett zu bleiben, verspottete. Nelltis war reich genug, sich alles zu leisten, was er wollte, nicht nur die beste Verpflegung und einen unüberschaubaren Hofstaat, sondern auch ein behagliches, genießerisches Leben.

Kit hatte zwar wenig übrig für Müßiggang, doch sie respektierte die Macht ihres Onkels und seiner Fähigkeit, selbst der kleinsten Laune nachzugeben. Zudem war Nelltis ihr Verwandter, auch wenn es keine Blutsbande zwischen ihnen gab. Nelltis war der Mann von Gregor Uth Matars Schwester. Kitiara hatte ihre Tante nie kennengelernt, die bei der Geburt zusammen mit dem Baby gestorben war. Aber sie wußte, daß Nelltis treu den Kontakt zu Gregor aufrechterhalten hatte, solange dieser in Solace gewesen war, und sie vermutete, daß ihr Onkel einer der wenigen aus der Familie gewesen war, den Gregor um ein »zeitweises Darlehen« hatte angehen können, um seine Frau und die kleine Tochter zu unterstützen.

Nach Gregors Verschwinden war Nelltis über die Jahre mit Kitiara in Kontakt geblieben. Und jetzt, nachdem Solace sie langweilte und Tanis sie enttäuscht hatte, war Kitiara gekommen, um vorläufig bei ihm zu bleiben.

Während Onkel Nelltis vorsichtig weiterschlich und sich dabei flach an die Wand der Schlucht drückte, bestaunte Kit die Kunst als Fährtenleser und Jäger, die er trotz seiner schwelgerischen Lebensweise an den Tag legte.

Ein Knacken ließ die beiden aufmerken. Nelltis winkte Kit mit einem Arm. Wie er legte sie einen Pfeil auf. Zu beiden Seiten der Schlucht schlichen sie langsam durch eine Zickzackbiegung, die in einen breiteren Teil der Schlucht führte, der auf Kits Seite mit einem großen Nadelbusch begann.

Fast gleichzeitig sahen beide den tiefen Einschnitt im ockerfarbenen Fels. Eine Höhle. Aus der flachen Tiefe glitzerten sie zwei rote Raubtieraugen an. Nelltis, der auf derselben Seite war wie die Öffnung, erstarrte. Kitiara hockte sich tiefgebückt hin.

Regelrecht ehrfürchtig sahen die beiden zu, wie ein Riesentier ins Tageslicht heraustrat, das sie wohl einschüchtern wollte. Über zwei Meter hoch und fast drei Meter lang stand die Leucrotta da. Ihr Körper ähnelte dem eines großen Hirsches, der Kopf dem eines übergroßen Dachses. Der Kopf war pechschwarz, während der Rest des Körpers dunkelbraun war. Ihre Hufe waren paarig. Der Schwanz sah aus wie der eines Löwen.