Ihr Maul stand offen. Speichel tropfte von den knochigen spitzen Zahnreihen. Selbst von ferne konnte Kitiara den fauligen Atem riechen. Der Atem einer Leucrotta stank ebenso scheußlich, wie sie aussah, vielleicht einer der Gründe, warum sie als Einzelgängerin und am liebsten an einsamen Orten lebte.
Als die Leucrotta dastand und ihre Gegner beobachtete, winkte Nelltis den beiden Männern hinter ihm zu, bis zu Kitiara vorzukommen. Einer der Männer blieb neben Kit stehen. Er hielt Schwerter und verschiedene Jagdwaffen bereit. Der andere bekam die gefährliche Aufgabe, auf dem Bauch vorwärts zu kriechen und dabei ein langes, dickes Netz mitzuziehen, das man dem Wesen über den Kopf werfen konnte, um es einzufangen.
Die Leucrotta schien ihren vier Gegnern aufmerksam zuzuschauen, machte jedoch überraschenderweise keine Anstalten anzugreifen. Bei ihrer überwältigenden Größe hätte sie wahrscheinlich in jede beliebige Richtung durchbrechen und entkommen können. Statt dessen aber stand sie einfach da und wartete, bis die menschlichen Jäger den ersten Zug machten.
Mit schneller, fließender Bewegung stand Nelltis auf, zielte und schoß auf die Leucrotta. Ach Kit stand auf und zielte, während der Mann mit dem Netz losrannte, um es über das gefährliche Tier zu werfen.
Alle waren eine halbe Sekunde langsamer als die Leucrotta, die bereits ihre erste Beute ausgewählt hatte. Erschreckend schnell sprang das Untier los und erwischte den Mann mit dem Netz, als er es warf und sich wieder zurückziehen wollte. Mit dem Netz halb über seinem Kopf stand die gewaltige Leucrotta über dem Mann, öffnete ihre großen, kräftigen Kiefer, biß das Netz durch und riß dem Mann mit einem brutalen Schnappen den Kopf ab. Blut sprudelte aus dem Körper des Mannes, und Nelltis und Kit bekamen noch einen Spritzer ab, als die Leucrotta ihr Opfer heftig schüttelte und den Körper wie eine Stoffpuppe gegen die Wand der Schlucht schleuderte.
Nelltis’ Pfeil stak in der Flanke des Tiers, wo er winzig und sinnlos aussah. Kitiaras Schuß war vorbeigegangen. Beide hatten ihren zweiten Pfeil aufgelegt, doch die Leucrotta duckte sich bereits hinter den Nadelstrauch, wo sie teilweise vor Angriffen geschützt war.
Nelltis und Kit zögerten. Wachsam beobachteten sie das riesige Tier, dessen Augen sie von oben bis unten anfunkelten.
Plötzlich öffnete das Tier sein Maul und stieß einen lauten, hohen, keckernden Schrei aus, der jedes andere Geräusch übertönte und Kit beinahe die Ohren zum Klingeln brachte. Mit schnellen Kieferbewegungen ließ die Leucrotta den schrillen Ton lange weitergellen, ohne sich aus ihrem Versteck zu rühren.
»Was macht sie denn?« zischte Kit Nelltis über die Schlucht hinweg zu.
»Sie lacht uns aus«, entgegnete Nelltis mit gedämpfter Stimme. »Brüstet sich mit ihren Opfern.« Nelltis hatte sich geduckt und zeigte keine Spur von Angst.
»Verstehst du ihre Sprache?« fragte Kit überrascht. Ein fröhlicher Funken tanzte in Nelltis’ runden Augen.
»Nein«, gab er grinsend zu. »Nur geraten.«
Die Leucrotta mahlte wieder mit den Kiefern und stieß eine neuerliche, lange Serie hoher, unverständlicher Töne aus. Hoch oben konnte Kit sehen, wie Nelltis’ Bogenschützen von dem Geräusch angezogen wurden und sich am Rand der Schlucht aufstellten. Obwohl sie bereits zielten, wußten sie genau, daß sie nur im äußersten Notfall schießen durften.
Das hier war Nelltis’ Sache.
»Ich glaube, sie hat gesagt: ›Ich fresse erst den Dicken, dann das leckere Weibchen‹«, zischte Kit Nelltis zu, wobei sie ihr Gesicht zu einem schiefen Lächeln verzog. Nelltis grinste zurück.
Plötzlich drang vom oberen Rand der Schlucht eine Folge von Schreien zu ihnen herunter, die wie ein Echo des Meckerns der Leucrotta klang.
Mit großen Augen suchte Kitiara den Rand ab, denn sie war sicher, daß ein Partner des Tiers aufgekreuzt war. Auch Nelltis wurde abgelenkt und fuhr auf. Die Leucrotta selbst unterbrach ihr Geheul und witterte, um den Geruch des Eindringlings aufzunehmen.
Schließlich blieb Kitiaras Blick an Ladin Elferturm hängen, der vor Stolz über seine Imitation strahlte und Kit und ihrem Onkel zuwinkte, die Jagd zu beenden, solange ihr Opfer abgelenkt war.
Unglücklicherweise hatte das Tier sich bereits wieder den Jägern zugewandt. Und bevor Kit oder ihr Onkel wieder ganz bei der Sache waren, sprang die Leucrotta aus ihrem Versteck.
Nelltis wußte, daß er zu spät dran war, als er herumfuhr, um einen Pfeil in die riesige, schattenhafte Form hinaufzuschießen, die sich auf ihn stürzte. Er zielte nach oben, rollte – erstaunlich behende für einen so beleibten Mann – nach vorn und fühlte, wie die Klaue der Leucrotta ihn erwischte und ihn hart auf den Rücken warf. Nach kurzer Benommenheit kam Nelltis mühsam auf die Knie, lehnte sich an die Wand der Schlucht und legte einen weiteren Pfeil auf.
Als er auf die Beine kam, sah er die Leucrotta einige Fuß entfernt zuckend auf der Seite liegen. Aus ihrem wild herumschlagenden Kopf strömten Schleim und stinkendes Blut. Ein Pfeil – sein Pfeil – steckte im Bauch des Tieres, während ein zweiter – Kits – aus dem Hals der Leucrotta ragte. Kit ließ sich, den Rücken an der Felswand, in die Hocke gleiten. Sie war offenbar mitgenommen, aber unverletzt. Müde nickte sie ihm beruhigend zu.
Nelltis ging zu dem Tier hinüber. Sein Rücken glühte vor Schmerz, doch jetzt kam auch die Begeisterung über die erfolgreiche Jagd. Einen Augenblick stand er herrisch über seiner gefallenen Beute, um dem Tier dann einen Pfeil ins Gehirn zu schießen. Auf der Stelle stieß die Leucrotta ihren letzten Atem aus und lag still.
Kit kam herüber, um das Monster anzustarren, das im Tod noch ebenso mächtig und häßlich aussah wie zu Lebzeiten. Der überlebende Gefolgsmann hastete an ihre Seite. Er riß seine spitze Kappe hoch, woraufhin die Obenstehenden in stürmischen Beifall ausbrachen.
»Ich glaube, ich sollte dir danken, weil du mir das Leben gerettet hast«, sagte Nelltis fast versonnen.
»Bist du enttäuscht, Onkel?« fragte Kitiara. »Ich glaube nicht, daß mein Pfeil ihn getötet hat. Ich glaube, es waren beide zusammen – deiner und meiner.«
Er sah seine junge Nichte mit ihren dunklen Augen und dem ernsten Gesichtsausdruck an und wußte, daß sie so etwas nicht sagen würde, wenn sie es nicht meinen würde. »Ja, beide«, sagte er mit offenkundiger Zufriedenheit.
Elferturm kam in die Schlucht heruntergeklettert. Er war der erste von den anderen Jägern, der zu ihnen stieß. Wichtigtuerisch warf er sich in die Brust. »Eine gute Jagd«, stellte er fest.
Nelltis’ Selbstzufriedenheit verschwand. Grollend wandte er sich seinem Fährtensucher zu. »Was nicht dir zu verdanken ist. Wenn du das nächste Mal ein bißchen nützliche Strategie einbringen willst, dann sorg dafür, daß ich vorher davon weiß, sonst ist das die letzte Jagd deines Lebens in Lemisch.«
Elferturm lief knallrot an, als Kit und ihr Onkel ihm den Rücken zukehrten und davonmarschierten.
Stunden später, nachdem sie das schwere Tier aus der Schlucht geschleift und auf einer Trage hinter den Pferden festgezurrt und den unglückseligen Mann begraben hatten, der heute sein Leben gelassen hatte, ritten Nelltis, Kit und die Jagdgesellschaft im Triumphzug in den Burghof ein.
Alle Bediensteten und Arbeiter von Nelltis fanden sich ein, um ihrem Herrn zu gratulieren, der für den Abend ein Festmahl anordnete. Vierschrötig wie er war, stand er strahlend vor Stolz da und tat alle besorgten Fragen nach seiner Verletzung am Rücken achselzuckend ab. Allen, die zuhörten, erzählte er, daß seine Nichte gleichermaßen am Erfolg der Jagd beteiligt war.
Aus etwas Abstand beobachtete Kit ihn halb liebevoll, halb belustigt. Sie wollte gerade auf ihr Zimmer gehen, als sie sah, daß Nelltis eine schattenhafte Gestalt hinter dem Vorhang oben am Fenster bemerkte, die ihm ein Zeichen gab. Kit konnte nicht erkennen, wer es war, doch Nelltis gab rasch einige Anweisungen zum Ausstopfen der Trophäe und entschuldigte sich dann bei Kit und den anderen. Eilig schritt er durch den nahen Kücheneingang der Burg und verschwand hinter der Eichentür.