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»Caramon würde für mich sein Leben geben, das weiß ich. Ich muß etwas tun, aber wie soll ich zu ihnen kommen? Wenn Raistlin recht hat, ist die Antwort Tausende von Meilen entfernt zu finden; das wäre eine langwierige Reise zu Pferd oder eine nicht viel schnellere, aber zehnmal gefährlichere Reise zu Wasser. Selbst wenn ich sie einhole, bis ich endlich dort bin…«

Wütend über ihre Hilflosigkeit lief sie vor Nelltis auf und ab. Dieser trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Die Lippen hatte er zu einer dünnen Linie aufeinandergepreßt. Langsam breitete sich ein erfreuter Ausdruck auf seinem Gesicht aus.

»Wenn es nur einen Weg gäbe«, wiederholte Kitiara, die sich mit der Faust in die Handfläche schlug.

»Vielleicht gibt es einen«, sagte Nelltis so verschlagen, daß Kit stehenblieb und ihn anstarrte. Er kniff die Augen zusammen. Die Finger hatten aufgehört zu trommeln, und seine Hände lagen aneinander.

Sie beugte sich über den Tisch vor. »Wie? Was meinst du, Onkel?«

»Vielleicht gibt es einen Weg«, wiederholte Nelltis, »aber das wird nicht einfach sein.«

»Geld? Ich habe etwas, aber ich kann auch mehr besorgen. Ich verbürge mich dafür.«

Nelltis winkte ab. Geld war nicht das Problem. »Ich habe reichlich Geld.«

»Zeit? Ist nicht mehr genug Zeit?«

Wieder winkte Nelltis abwehrend ab. Er schaute an ihr vorbei zur Decke hoch, um zu zeigen, wie sehr er nachdachte.

»Was dann?« drängte Kitiara.

»Schwierig«, sagte Nelltis und schürzte die Lippen. »Aber vielleicht klappt es. Für die Reise selbst brauchst du kein Geld, nur Mut und etwas Glück.«

Obwohl Kit keine Ahnung hatte, was Nelltis vorhatte, konnte sie aus seinem Verhalten schließen, daß er es ernst meinte. Und in Familienangelegenheiten vertraute sie Onkel Nelltis so sehr, wie Kitiara Uth Matar überhaupt jemandem vertrauen konnte. Die Reise erschien unmöglich, denn Kitiara konnte sich nicht vorstellen, wie eine solche Entfernung innerhalb kürzester Zeit zurückgelegt werden konnte. Aber sie stellte fest, daß sie ihm glaubte, als er sagte, es könnte klappen.

Sie warf ihm ein warmes, wissendes Lächeln zu. »Den Mut habe ich«, sagte sie, »wenn du für das Glück sorgen kannst.« Ernsthafter fügte sie hinzu: »Ich tue alles, was nötig ist, und zahle es dir mit allem zurück, was ich kann.«

»Na, na, Kitiara«, wehrte Nelltis ab. Während er sie fest anblickte, senkte er die Stimme. »Ich erwarte nichts als Dankbarkeit. Oh, ehe ich’s vergesse«, fügte er beiläufig hinzu und griff nach einer winzigen Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit auf seinem Tisch, die er ihr entgegenstreckte, »das ist ein Andenken an die Leucrottajagd. Ich habe es von dem Mann, der den Kopf präpariert hatte, beiseite legen lassen – extra für dich.«

»Was ist das?« fragte Kitiara, die mißtrauisch die dickliche Flüssigkeit ansah, welche der kleine, unauffällige Glasbehälter beinhaltete.

»Eine Flasche Leucrottaspeichel«, erläuterte Nelltis. »Angeblich ein wirksames Gegengift gegen Liebestränke. Nach dieser komischen Geschichte im Hof dachte ich, du könntest es vielleicht besser gebrauchen als ich.«

Skeptisch wanderte Kits Blick von Nelltis zu dem Fläschchen und wieder zurück. Sein Ausdruck war undurchschaubar. »Nimm schon«, sagte er drängend. »Vielleicht kannst du es eines Tages gebrauchen.«

Kitiara schenkte ihm ein weiteres schiefes Grinsen, als sie das Fläschchen einsteckte.

»Jetzt müssen wir uns beeilen«, fügte Nelltis hinzu, der wieder die Feder nahm und etwas auf einen Zettel kritzelte. »Wir haben zu tun. Du mußt Freunde von mir kennenlernen. Du mußt deine Sachen packen. Du mußt dich beeilen, wenn du zu Sonnenaufgang aufbrechen willst.«

4

Über das Blutmeer

Als erster erwachte Caramon, dem vor Schmerzen der Kopf brummte. Er hatte das undeutliche Gefühl, etwas geträumt zu haben – daß er ganz oben in einem steinernen Turm starkem Wind und peitschendem Regen ausgesetzt gewesen war. Nur war es kein Turm, es war der größte Baum eines Waldes, der sich bog und schwankte, während Caramon sich gefährlich weit oben in den Zweigen festklammerte. Ein Blitz traf den Baum, so daß der in der Mitte gespalten wurde, und Caramon fiel hinab. Aber er konnte sich retten. Er mußte nur den Anker eines silbernen Schiffes erwischen, das vorbeiflog, einen Anker, der dicht vor seinen Fingerspitzen baumelte…

»Uah«, stöhnte er. Dieser Seefahrermet war schlimmer als Zwergenschnaps. Caramon wollte sich die Nasenwurzel massieren, doch etwas hielt seine Hand zurück. Als er unter Schmerzen die Augen aufschlug, stellte er fest, daß er aus irgendeinem unerfindlichen Grund zusammen mit Sturm und Tolpan an einen Pfosten gefesselt war. Seine Freunde waren bewußtlos. Caramon schloß wieder die Augen und entspannte sich. Es war nur ein böser Traum. Alles wäre vorüber, wenn der Metrausch abklingen würde.

Das Toben des Sturms ließ nach und wurde vom Schreien der Möwen, vom Seufzen des Windes und dem sanften Wiegen und Schaukeln eines Schiffes abgelöst. Dann, nach einer Weile, wurden allmählich andere Geräusche hörbar… dumpfes Grunzen, Schaben und Ruderquietschen.

Caramons schwere Augenlider öffneten sich wieder, und er versuchte, die Situation einzuschätzen. Wo war er überhaupt? Was war geschehen? Warum waren er und seine Freunde an den Schiffsmast gefesselt?

Sturm lehnte hinter ihm an seinem Rücken, mit zurückgeworfenem Kopf und offenem Mund. Dahinter konnte Caramon, wenn er sich die Schulter verrenkte, Tolpan erkennen, auf dessen Stirn eine häßliche blaurote Beule prangte. Caramon versetzte Sturm einen Rippenstoß, der junge Mann reagierte jedoch nicht. Dafür konnte er Tolpan hören, als der Kender sich stöhnend zu rühren begann.

Alle drei waren an den Hauptmast der Venora gebunden. Soweit Caramon sehen konnte, war niemand anders an Bord des Schiffs, das sanft mit der Strömung zu treiben schien.

Caramon durchforstete seine Erinnerung, um herauszufinden, wie er hierher gekommen war. Das einzige, was ihm noch einfiel, war, wie er an Deck gesessen, Seemannsgarn gesponnen und mit ein paar Matrosen Met getrunken hatte. Sie waren auf dem Rückweg aus Osthafen gewesen. Es war eine wunderbar klare Nacht gewesen, eine von jenen, in denen alles so gut und richtig erscheint.

Obwohl er sich bemühte, konnte er nicht sehen, wo genau die Sonne stand, doch Caramon spürte, daß hellichter Tag sein mußte. Es war heiß und feucht. Irgendwo da oben, hinter den schmutzig grauen Wolken mußte die Sonne sein. Wolken… nein, mehr ein Nebel, der seinen Mantel über alles breitete, so daß Caramon auf dem Schiff nicht sehr weit sehen konnte.

Mit einem Mal brachen die Geräusche, die er gehört hatte, ab und wurden durch andere, nähere, gezieltere Laute ersetzt. Schritte. Waffengeklirr. Stimmen.

»Was ist los?« fragte Tolpan benommen. »Was ist denn passiert?«

»Pst!«

Der Nebel riß etwas auf. Caramon sah Hände, die die Reling der Venora ergriffen, und Gestalten, die seitlich aufs Schiff kletterten. Zu zweit und zu dritt begannen sie, vorzudringen. Sie kamen näher und näher, und Caramon wußte, er würde bald ihre Gesichter erkennen können.

Über die Schulter zischte Caramon eindringlich: »Sturm, wach auf!« Er fühlte, wie der Solamnier den Kopf bewegte und sich regte.

Schließlich erkannte Caramon, daß es sich bei den Gestalten um einen wild zusammengewürfelten Haufen handelte, einschließlich diverser menschlicher Raufbolde, ein paar Ogern, einer Phalanx Minotauren und einer geheimnisvollen, gebückten Gestalt, die sich in einen Mantel hüllte und fast außer Sichtweite am Heck stand. Caramon konnte keinen näheren Blick auf diese zurückhaltende Gestalt werfen, die den anderen hin und wieder Befehle zuzischte und irgendwie den Eindruck eines schlüpfrigen, schlangenhaften Wesens machte.