Caramons Gedanken überschlugen sich. Beim Gedanken an seinen Zwillingsbruder verharrten sie. Raistlin und er waren mittlerweile hervorragend aufeinander eingespielt und ergänzten sich so gut, daß sie in vielen kritischen Situationen den jeweiligen Vorteil nutzen konnten. Der junge Krieger wünschte sich von ganzem Herzen, jetzt seinen Bruder an seiner Seite zu haben. Was würde Raistlin in diesem Fall tun?
Sarkis kehrte zurück und fuhr Dogz verächtlich an: »Pah, Dogz! Es ist richtig, daß Kender ehrlos sind, aber es ist doch bekannt, daß sie gegenüber gewöhnlichen oder ungewöhnlichen Krankheiten immun sind. Genauso leicht könntest du dich bei einem Baumstumpf anstecken. Laß mich das erledigen, du abergläubischer Trottel!«
Tolpan gelang es, sich so zu verrenken, daß er sehen konnte, wie sich Sarkis mit ausgestreckten Riesenhänden über ihn beugte. »Du häßlicher, warziger, schweinemäuliger, matschfarbiger Kretin! Ich bin so ehrenhaft wie jeder andere – gut, vielleicht nicht gerade so ehrenhaft wie Sturm oder auch Caramon, der auf seine eigene, schlichte Art ehrenhaft ist – aber doppelt, zehnmal, hunderttausendmal ehrenhafter als solche wie ihr! Und sei gewarnt, daß ich dich mit jeder Krankheit anstecken könnte, die ich will, wenn es mir nur wichtig genug wäre… He, laß das! Hör auf damit! Das kitzelt! Hihi! Haha-hahaha!«
Der verrückte Kender redet sich um Kopf und Kragen, dachte Sturm. Von seiner Warte aus sah er, daß Sarkis Tolpans Päckchen und Beutel entdeckt hatte. Der Minotaurus grinste, worauf gelbe Zähne in seinem viehischen Gesicht zu sehen waren.
Sarkis stapfte zu seinem Stellvertreter und hielt dabei Tolpans Beutel hoch. Wild funkelte er seinen Untergebenen an.
»Und, was ist das?« fragte der gemaßregelte Dogz.
Die Menschen und die Oger kicherten, bis Sarkis sie mit einem Blick zum Schweigen brachte. Sarkis marschierte zu der Gestalt im Nebel zurück. Die Unterhaltung bestand aus weiterem Zischen und gedämpftem Grunzen. Dann kam er zu Dogz zurück.
»Er ist derjenige«, erklärte Sarkis.
Dogz wollte hingehen, aber Sarkis hielt ihn an der Schulter fest. »Du darfst ihm nichts tun! Nimm ihn und seine Beute mit!« Er gab ihm die Sachen des Kenders.
Dogz eilte zu Tolpan. Ein hoher, schriller Schrei gellte durch die Luft. Caramon und Sturm kämpften mit ihren Fesseln, doch sie konnten nichts tun.
Dogz kam mit Tolpan wieder hinter dem Mast hervor. Er hielt den quietschenden, schimpfenden Kender an seinem Haarknoten so weit wie möglich von sich ab. Es sah aus, als ob der riesige Minotaurus ein Kaninchen an den Ohren gepackt hatte, doch in diesem Fall spuckte das Kaninchen einen Strom von Verwünschungen aus.
»Autsch! Von allen – Du klumpfüßiger, knoblauchfressender Hohlkopf! Paß doch auf, was du – Autsch! Wo gehen wir denn – Autsch! Du übergroße, vertrottelte, milchlose Kuh! Autsch! Das sind meine Haare, an denen du ziehst! He, was ist denn mit Caramon und Sturm? Eeeyyy!«
Unter den Augen von Caramon und Sturm reichte der Minotaurus den strampelnden Kender an zwei Menschen weiter, die über die Reling kletterten und verschwanden, wahrscheinlich in ein unten liegendes Beiboot. Breit grinsend vor Zufriedenheit drehte sich Dogz zu Sarkis um.
Caramon hörte ein schlurfendes Geräusch und konnte vage erkennen, wie die verhüllte Gestalt sich über die Reling zurückzog, um dann vom Nebel verschluckt zu werden. Die anderen Menschen, Schwimmoger und Minotauren eilten hinterher.
Dogz trat vor und fragte drohend: »Was wird aus den beiden hier?«
Sarkis zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Die sind unwichtig. Werft sie über Bord und steckt das Schiff an.«
Die wenigen verbliebenen Menschen kamen näher. Einer von ihnen, ein Hüne von einem Mann mit rotem Bart und einer Seilnarbe am Hals, warf Dogz einen flehenden Blick zu. Dogz nickte ihm zu.
Die beiden Stiermenschen drehten sich um und verschwanden ebenfalls über die Seite des Schiffes.
Die Menschen umstellten Caramon und Sturm und verprügelten sie mit kurzen Keulen. Da Caramon sich nicht verteidigen konnte, versuchte er, seine Augen zu schützen, indem er sie fest zusammenpreßte. Neben ihm stöhnte Sturm, grunzte dann, als die ersten Schläge trafen, nahm aber dann die Prügel schweigend hin.
Der Mann mit der Seilnarbe begann gegen den Mast zu treten. Nach einigen Tritten brach er unten ab, und er und die anderen Menschen hoben ihn hoch und schleiften Sturm und Caramon zur Seite der Venora.
Überall hörte man, wie das Schiff leck geschlagen wurde. Dann ertönte ein Brausen und ein Windstoß fuhr über das Deck, und plötzlich schlugen die Flammen hoch.
Sturm und Caramon, die immer noch an das Maststück gefesselt waren, wurden in die Luft gehoben. Mit einem rauhen Singsang hoben die Männer die Gefangenen über die Reling und schwangen sie mehrmals wieder aufs Schiff zurück, ehe sie sie mit einem letzten Ruf fallen ließen. Sturm und Caramon und der Rest vom Mast flogen durch die Luft und platschten dann als wildes Knäuel ins Wasser.
Als Caramon ins Wasser klatschte, begann er zu kämpfen. Seine Arme schienen ganz an den Holzmast gebunden zu sein, und seine Hände waren stramm gefesselt. Schon ohne diese Hindernisse war Schwimmen nicht gerade Caramons stärkste Seite. Im Krystallmirsee wäre er vor ein paar Monaten fast ertrunken, wenn Sturm ihn nicht gerettet hätte. Seither hatte er ein paar bescheidene Züge geschafft, aber jetzt strampelte er um sein Leben.
So, wie sie im Wasser aufgekommen waren, wurde Sturm vom Mast kurz unter Wasser gedrückt und brauchte ein paar Momente, bis er an die Oberfläche kam. Keuchend versuchte Sturm, seine Arme loszuwinden, aber wie Caramon schaffte er es nicht. Mit den Beinen trat er kräftig nach unten. Zum Glück für die zwei hielt das Stück Holzmast sie an der Oberfläche.
»Strampel nicht so!« rief Sturm Caramon außer Atem zu. »Du verbrauchst deine ganze Kraft. Jetzt mal immer langsam.«
Das Wasser war merkwürdig warm und trüb, mehr braun als blaugrün. Ihr Strampeln wirbelte Blasen und schleimige, klebrige Pflanzen auf. Stechender Gestank drang in ihre Nasen.
Plötzlich erschütterte eine furchtbare Explosion ihre Ohren. Beide Männer drehten so schnell den Kopf, daß sie durch den Nebel sahen, wie die Venora in einem großen Ball aus Feuer und Rauch aufging. Die Strömung hatte das Schiff bereits weit davongetrieben. Das andere Schiff, von dem Caramon kaum etwas gesehen hatte, war im Dunst verschwunden.
Caramon und Sturm sahen minutenlang zu, wie die Überreste des Schiffes brennend in die Wellen sanken. Fast wie auf Befehl senkte sich dann der schwere, warme Nebel herab, der alles bis auf die unendlichen Wogen des Ozeans verdeckte.
Während sie sich bemühten, über Wasser zu bleiben, hatten Caramon und Sturm dieselben, unausgesprochenen Gedanken.
Wo waren sie? Was war eigentlich passiert? Wie zum Henker sollten sie jemals Tolpan finden und retten? Oder sich selbst?
Obwohl er seine guten Freunde Caramon und Sturm wirklich vermißte, und obwohl er wirklich Rettung nötig hatte, amüsierte sich Tolpan Barfuß recht gut.
Richtig, er steckte in einem kleinen Verschlag mit eisernen Riegeln im Unterdeck des Minotaurenschiffes, das schlimmer stank als ein Berg toter Stinktiere. Auch richtig, er war ein Gefangener der Minotauren, der Oger mit den Schwimmhäuten – er hatte erfahren, daß sie Orughi genannt wurden – und der verkommenen, menschlichen Seefahrer, die ihn jederzeit umbringen konnten.
Aber insgesamt war er bis jetzt ziemlich gut behandelt worden. Sarkis hatte ihm seine Taschen und Beutel zurückgegeben. Ja, der Kommandant des Schiffes hatte so getan, als wären die Sachen des Kenders unantastbar und unter Tolpans Schutz sogar sicherer. Tolpan konnte stundenlang seine zahlreichen Schätze durchgehen, und jetzt mußte er schließlich viel Zeit totschlagen. Er wünschte, er hätte Raistlin nicht die magische Flaschenpost geschickt, denn jetzt wäre der Zeitpunkt dafür noch wesentlich besser gewesen.