Mit dem Käfig auf den Schultern trugen Dogz und Sarkis den Kender stolz durch die Straßen der Minotaurenstadt Lacynos. Was für ein wundersamer Ort, dachte Tolpan. Er konnte es kaum erwarten, allen seinen Freunden davon zu erzählen… falls er glücklich genug war, dieses Abenteuer zu überleben!
Im Hafen lagen Galeeren, Frachtschiffe und Fischerboote. Über einen Mechanismus aus Seilen und Flaschenzügen wurden riesige Bündel Holz und andere lebensnotwendige Güter aus den Lastschiffen ausgeladen. Die Kraft dafür brachten Menschensklaven auf, die von peitschenschwingenden Minotauren beaufsichtigt wurden. Grimmig aussehende Kaufleute und Piraten stritten auf den Docks miteinander. Das Wasser quoll über vor treibendem Seetang und Müll.
Die eigentliche Stadt begann am Ende der Werft. Die belebten Straßen und die schmutzigen Seitengassen von Lacynos waren mit Dreck gepflastert, der sich durch Regen und viel Verkehr in dicken, schlüpfrigen Schlamm verwandelt hatte. Grobgezimmerte Holzbauten, die größer waren als alles, was Tolpan je in Südergod gesehen hatte, standen in Blocks nebeneinander. Statt Innentreppen gab es außen Leiterstufen, und durch viereckige Löcher im Dach konnte man hinausklettern.
Tolpan mußte sich immer wieder umdrehen, um die vielen, wundervollen Dinge mitzubekommen, die hier vor sich gingen. Es gab reichlich Menschen, die ein Vorrecht für die Eckkneipen zu haben schienen. Viele von ihnen wirkten wie bewaffnete Räuber, die mit ihren gestohlenen Juwelen und Ringen protzten. Sie trugen bösartig wirkende Krummsäbel und Waffen mit Haken. Die Menschen waren gegenüber den Minotauren in der Minderzahl, aber Tolpan fiel auf, daß gelegentlich laute Streitereien und Kämpfe zwischen den Mitgliedern beider Rassen ausbrachen.
Die Atmosphäre war so geschäftig, daß nicht alle Dogz und Sarkis mit dem Kender im Käfig bemerkten, einige aber schon. Die menschlichen Grobiane zeigten lachend mit dem Finger auf ihn. Die Minotauren blickten neugierig hin und knurrten vor Verachtung. Tolpan zeigte und lachte und knurrte einfach zurück, worauf Gelächter hinter ihm ausbrach.
Sie kamen eine breitere Straße herunter und trugen Tolpan auf einen lebhaften Platz voller Stände und Zelte zu, wo ein überwältigender Fisch- und Schweißgeruch vorherrschte. Der Lärm von lautem Feilschen erstickte alle anderen Geräusche.
»Unser Marktplatz«, prahlte Dogz, der seinen Kopf zu Tolpan neigte. »Hier kann man die besten Silberwaren von allen Minotaureninseln kaufen. Aber man muß aufpassen. Es gibt auch wertloses Zeug in Hülle und Fülle.«
Sarkis bellte Dogz einen Befehl zu. »Hör auf, mit dem Kender zu reden!« ordnete er an. »Das ist ein Zeichen von Schwäche.«
Tolpan, der im Käfig herumgeschüttelt wurde, sagte lieber nichts, obwohl er schwer in Versuchung war.
Hier auf dem Marktplatz, wo nur noch wenige Stunden Tageslicht herrschen würde, schloß man in farbenfroher, chaotischer Manier Geschäfte ab. Nur wenige bemerkten Dogz und Sarkis, als diese sich mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menge bahnten. Tolpan sah exotischen Schmuck und Waffen ausliegen, Wolle und Kleider und jegliche Art von Seefisch – geräuchert, eingelegt, frisch und nicht mehr so frisch.
Als sie eine weitere, ruhigere Straße hochliefen, näherten sie sich dem eindrucksvollsten Gebäude der Stadt Lacynos, einer Residenz des Königs der Minotauren. Es war ein auffälliges Herrenhaus mit Marmorsäulen, weitläufigen Gärten und Nebengebäuden, das hoch oben errichtet war, wo man die emsige Minotaurenmetropole überblicken konnte.
Sie gingen an einem Trupp Menschensklaven vorbei, die von Schnitten und getrocknetem Blut entstellt waren. Unter der Aufsicht peitschenschwingender Minotaurenwächter gruben sie Abwassergräben. Diese Menschen, die größtenteils hager und fahl aussahen, waren in Tolpans Augen bemitleidenswert. Sie ächzten unter der Peitsche und wagten nicht einmal einen Blick auf den Kender, als dieser vorbeigetragen wurde.
Bei der Ankunft am vorderen Tor der Außenmauer des Palastes sah Tolpan geordnete Formationen minotaurischer Soldaten, die draußen auf dem Hof gedrillt wurden. In bestimmten Abständen standen Posten auf der Mauer, und jeder schien Dogz und Sarkis zu kennen. Die Wachen grüßten eilig und ließen sie ein.
Um ehrlich zu sein, war Tolpan seine eingezwängte Besichtigungstour allmählich leid, und er war äußerst gespannt, wohin er wohl gebracht wurde. Deshalb war der Kender froh und zufrieden, als die Minotauren endlich anhielten, nachdem sie eine endlose Treppe in ein tieferes Geschoß von einem der Gebäude hinuntergestiegen waren. Sarkis öffnete den Käfig, und Tolpan kullerte heraus. Ihm blieb allerdings kaum Zeit, sich zu räkeln, denn Sarkis stieß ihn gleich in eine düstere, feuchte, aber immerhin geräumigere Kerkerzelle.
Ohne weiteren Kommentar schnaubte Sarkis einmal, drehte sich um und stieg die Stufen wieder hinauf. Dogz blieb noch kurz stehen und wartete, bis Sarkis verschwunden war, ehe er sich Tolpan zuwandte. »Auf Wiedersehen, Freund Tolpan«, sagte der Minotaurus traurig und wollte gehen.
»Warte! Was geschieht denn jetzt?« rief Tolpan, doch es war zu spät, denn Dogz war schon die Treppe hochgelaufen.
Eine oder zwei Stunden vergingen. Genau war das in der langweiligen Zelle schwer zu sagen. Nicht, daß es so schmutzig war, auch wenn es schmutzig genug war, oder daß es so stank, wo Tolpan sich doch allmählich schon an den Geruch der Minotauren gewöhnte. Es war einfach so, daß eine Pritsche und ein Eimer die gesamte Einrichtung darstellten. Weiter gab es nichts zu sehen oder zu tun, und Tolpan war so untypisch niedergeschlagen, daß er nicht einmal Lust hatte, seine Beutel zu durchstöbern. Im Vergleich dazu war das Minotaurenschiff unterhaltsam wie ein Karneval gewesen.
Seine Stimmung hellte sich auf, als Schritte erklangen und zwei Minotauren, die er nicht kannte, mit Sarkis die Treppe herunterkamen. Sarkis trug eine Geißel. Einer der Minotauren trug einen scharlachroten Umhang und um die Stirn einen schmalen, goldenen Reif. Tolpan fragte sich, ob es echtes Gold war, und wünschte, er könnte den Reif wenigstens mal eine Minute in der Hand halten, um das zu überprüfen. Der andere Minotaurus war häßlich und gehörnt wie die meisten von ihnen, trug jedoch einen Kilt und keine Waffen.
Der mit dem Goldreif strahlte Autorität aus. Er trat vor die anderen und sah Tolpan an. Sein tierhaftes Gesicht war ausdruckslos. Vor seinem fauligen Atem zog Tolpan sich in der Zelle ganz nach hinten zurück. Die gelben Zähne des Minotaurus blitzten.
»Das ist also der Kenderzauberer«, sagte der Minotaurus mit dem Umhang.
»Ja, König«, antwortete Sarkis.
Kenderzauberer? Tolpan überlegte. Was zum Henker redeten diese dummen Rindviecher da?
»Der Nachtmeister wird hocherfreut sein«, sagte der König. Dann drehte er sich auf seinen Hufen um und ging wieder die Treppe hoch.
Tolpan war so verblüfft über den kurzen Wortwechsel, daß er kaum Zeit fand, selbst etwas zu sagen. »Wieso Nachtmeister?« rief er der verschwindenden Gestalt nach. »Wieso König? Wenn du der Befehlshaber hier bist, dann laß mich lieber hier raus, bevor meine Freunde herausfinden, wo ich bin! Und ich habe reichlich Freunde – viele – jede Menge! Wenn sie dich zum König gewählt haben, dann bestimmt, weil du den stinkigsten Atem von ganz Lacynos hast – nein, besser von ganz Mithas. Besser von ganz Ansalon, du aufgedonnerte, gabelschwänzige, kuhäugige Schmalzlocke!«
Wenn er nur Platz hätte, seinen Hupak zu schleudern. Wenn nur die Gitterstäbe nicht zwischen ihm und den Minotauren wären. Tolpan ergriff seinen Hupak und wedelte drohend damit.
Sarkis und der andere Minotaurus, der mit dem Kilt, blieben stehen, um Tolpan gleichgültig zu beobachten, bis er sich wieder beruhigt hatte. Irgendwann geschah das.
»Ich habe noch nie einen Kender gesehen«, knurrte der Minotaurus mit dem Kilt überraschend gelassen. »Und ich habe ganz sicher noch keinen Kenderzauberer gesehen.«