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Obwohl er damals so jung gewesen war, daß er sich kaum noch an die Geschichte erinnerte, war diese Erfahrung deutlich in sein Bewußtsein eingeprägt, denn seine Mutter hatte die Geschichte immer wieder erzählt. Das Bild seines Vaters, der sie – wenn auch um ihrer eigenen Sicherheit willen – von ihrem Zuhause fortschickte, war seiner Seele für immer eingebrannt. Schon früh hatte Sturm gelernt, welchen schmerzvollen Preis die Ehre fordern konnte. Heutzutage war der Orden der Solamnier nur bei wenigen hoch angesehen, doch Sturm wollte unbedingt den edlen Idealen seines Vaters entsprechen und Eid und Maßstab befolgen.

Wie ein Widerschein seiner düsteren Gedanken türmte sich am Horizont ein Wolkenberg auf. Scharfer, kalter Wind kam auf, der Sturm aus seinen Gedanken riß. Er bemerkte die Wolkenmasse augenblicklich, jedoch ohne ihr besonderes Interesse zu schenken. Unbeteiligt wie ein Kind stellte er vielmehr fest, daß sie aussah wie ein großes, fliegendes Wesen mit ausgebreiteten Flügeln und langen Klauen. Die Wolke schien das Wasser vor sich aufzuwühlen. Als er weiter in die Richtung sah, wurde Sturm bewußt, daß die Wolkenmasse sich bedrohlich auftürmte. Rasch kam sie näher und würde schon in wenigen Minuten das Schiff erreicht haben.

Sturm setzte sich in Bewegung, trat von der Reling zurück und warf einen Blick auf das hintere Deck, das immer noch vom dröhnenden Gelächter der Mannschaft widerhallte. Er mußte Kapitän Murloch finden, damit der das Schiff auf einen Sturm vorbereitete. Dann wollte er nach Caramon und Tolpan sehen.Unter Deck war Tolpan währenddessen äußerst beschäftigt gewesen, denn er hatte sorgfältig seinen magischen Brief an Raistlin Majere, Caramons Zwillingsbruder, aufgesetzt. Raistlin würde sicher begeistert sein! Tolpan hatte schon lange auf diese Gelegenheit gewartet – nun ja, wenigstens seit dem Abend, an dem sie an Bord der Venora gegangen waren, als der Inhalt eines seiner Beutel verrutscht war und die magische Flasche sich ihm in die Seite gebohrt hatte.

Erst da hatte er sich an die magische Flasche erinnert, die er vor ein paar Jahren bei einem Händler in Sanction gegen Perlen und Parfüm eingetauscht hatte. Oder vielleicht war es auch bei einer Kusine in Kenderheim gewesen. Es war schon sooo lange her.

Jedenfalls hatte man Tolpan versichert, daß er die Flasche in den weitesten Ozean schleudern konnte, damit sie irgend jemand irgendwo in Ansalon eine Botschaft übermittelte. Das war genau wie die verblüffenden Kunststücke, die immer in den Geschichten auftauchten, die sein Onkel Fallenspringer erzählt hatte, und jetzt war genau die richtige Gelegenheit, die magische Flasche auszuprobieren. Raistlin, der praktisch selbst ein Zauberer war – er hatte sich zwar noch nicht der Prüfung unterzogen, würde das jedoch schon bald tun –, machte eine so ausgefallene Möglichkeit der Verständigung bestimmt Spaß. Wer weiß? Der junge Magier würde vielleicht sogar bei dem griesgrämigen, alten Zwerg, Flint Feuerschmied, wegen Tolpans Einfallsreichtum und seiner absoluten Zuverlässigkeit ein gutes Wort für ihn einlegen.

Aber bei Raistlin mußte man äußerst genau abwägen, was man schrieb – oder sagte –, überlegte Tolpan, während er mit der Feder über dem zerknitterten Stück Pergament saß. Raistlin hatte oft schlechte Laune und war manchmal richtig grantig. Eine Nachricht in einer magischen Flasche war womöglich genau das Richtige, um ihm ein Lächeln zu entlocken – vorausgesetzt, es war eine gut geschriebene Mitteilung.

Minutenlang starrte Tolpan das unbeschriebene Blatt vor sich an. Seine Stirn war gerunzelt, der Haarknoten hielt ungewöhnlich still. Schließlich begann Tolpan zu schreiben:

Lieber Raistlin!

Ist das nicht erstaunlich? Ich schreibe dir von Bord des guten Schiffs Venora… jedenfalls war es bis jetzt ein gutes Schiff (seit zwei Tagen und zwei Nächten). Caramon ist oben…

Das strich Tolpan wieder durch.

Caramon ist auf Deck, wo er sich mit seinen neuen Freunden, den Matrosen, amüsiert, und Sturm wandert wohl auch dort herum und wälzt tiefsinnige Gedanken. Du kennst ja Sturm. Nun, ich denke, du kennst auch Caramon. Hei, Tanis!

Dieser Brief soll dir mitteilen, was geschehen ist, seit wir in Südergod angekommen sind. Wir haben die zweitägige Reise die Küste hinunter ohne Zwischenfall hinter uns gebracht. Unser kleiner Ausflug war erfolgreich. Der kräuterkundige Minotaurus, der das Jalopwurzpulver verkauft hat, das du für deine Forschungen zu dem seltenen Spruch brauchst, war genau da, wo Asa es gesagt hatte. Ich hatte diesbezüglich nie Zweifel, denn wie alle Kender kennt sich Asa bestens mit Karten aus, und im Kräutergeschäft weiß er wirklich Bescheid. Keine Sorge. Ich habe das Jalopwurzpulver sicher in einem meiner Beutel.

Dabei sprang Tolpan auf und tätschelte sicherheitshalber einen der Beutel auf der Koje, wobei seine Blicke wachsam hin und her jagten. Tolpan sah oder hörte nichts Besonderes. Seine Ohren nahmen kein anderes Geräusch wahr als das friedliche Knarren des Schiffs und das Rascheln seiner eigenen Bewegungen. Mit wiedergewonnener Sicherheit setzte er sich wieder an das improvisierte Schreibpult unter dem Bullauge und widmete sich erneut seiner magischen Botschaft.

Du hast vielleicht schon erraten, daß dies eine magische Flasche ist. Ich habe sie während der Zeit meiner Wanderlust schlau und ehrlich erworben (glaube ich), und als ich sie vor ein paar Tagen wieder entdeckt habe, dachte ich, ich könnte doch dir und Tonis und Flint einen Brief schreiben. Hei, Flint! Du hast bestimmt schon gedacht, ich hätte dich vergessen! Wenn alles gut geht, wird dieser Brief von einem braven Fischer aus dem Meer gefischt, der schlauerweise seine Bedeutung erkennt und ihn gegen eine großzügige Belohnung zu dir nach Solace bringt. Die Flasche wird ihre Botschaft nämlich – mit meiner Stimme – jedem sagen, der sie entkorkt. Kannst du dir das vorstellen? Ach, ich wette, inzwischen kannst du es.

Jedenfalls kehren wir auf dem erwähnten Schiff nach Abanasinia zurück und müßten in ein oder zwei Wochen in Solace ankommen, je nachdem, wie oft wir anhalten, um uns auszuruhen und Spaß zu haben. Und du weißt, wie oft Caramon anhalten und ausruhen und Spaß haben will, darum wird dieser Brief bestimmt früher ankommen als wir! Hier hielt Tolpan inne, um sich am Kinn zu kratzen. Das war ein guter Anfang. Er kaute auf dem Ende seiner Feder herum, bevor er sie wieder ins Tintenfaß tauchte.

Jedenfalls war die Mission ein Erfolg. Besonders Caramon hat die Stadt dort in der Nähe gefallen, Hyssop heißt sie – auch hiermit hatte Asa recht –, und Caramon hat dort einen Haufen neuer Freunde gewonnen, besonders weibliche. Sturm hat Caramon hin und wieder Gesellschaft geleistet. Sonst hat er die Docks und den Hafen von Hyssop erforscht, der viel kleiner ist als der Osthafen, aber sauber und freundlich. Sie kriegen nicht oft Besuch von weither. Ich glaube, Sturm hat die fremde Stadt Spaß gemacht, aber bei Sturm ist so was schwer zu sagen.

Ich habe mich nach Kräften bemüht, ein Auge auf die beiden zu haben, und habe auch selbst einige Erkundungsgänge unternommen. Hyssop hat viele kleine Krämerläden, aber die meisten Besitzer haben wohl noch nie einen Kender gesehen. Immer wenn ich ein Geschäft betrat, haben sie sich dermaßen aufgeregt, daß Sturm schließlich vorschlug – nein, er hat richtig darauf bestanden –, daß ich bei ihm bleibe und mich vom Marktviertel fernhalte.

Aber es gibt auch ein paar seltsame, unerklärliche Dinge, die unterwegs geschehen sind, die ich dir gerne berichten möchte. Das ist der eigentliche Sinn dieses Briefes, denn ich würde bestimmt keinen magischen Brief für eine langweilige Reise verschwenden.

Der Kräuterladen des Minotaurus war mit nichts zu vergleichen, was ich je gesehen hätte. Zunächst mal lag er in einer Höhle, und ohne Asas Karte könnte man sie niemals finden. Dazu war der kräuterkundige Minotaurus so höflich und entgegenkommend wie überhaupt möglich. Er hat auch nicht so gestunken, wie die meisten von ihnen es normalerweise tun. Sturm hat gesagt, er hätte an dem Stiermann sogar Seifenduft wahrgenommen. Sein Name ist – oder vielleicht sollte ich sagen »war«, aber damit greife ich mir selber vor – Argotz.