Raistlin trat vor. Er wühlte in seinem Sack und zog ein dickes Stück Lochkäse heraus, der in einfaches, weißes Papier eingewickelt war. »Wir haben dir ein Geschenk mitgebracht«, sagte er höflich.
Chental Pyrnee griff sofort zu, nahm das Geschenk und wickelte es gleich aus. Ihr verbliebenes Auge leuchtete sichtlich erfreut auf, als sie das dicke Käsestück in ihrer knorrigen Hand hielt. Das einzige, was Flint einfiel, während er ihr zusah, war, wie hungrig er plötzlich war und welch eine Verschwendung guten Käses das war. Der Zwerg hoffte, daß die Ogerin nicht seinen Magen knurren hörte.
Chental Pyrnee brach ein Stück Käse ab und stopfte es sich in den Mund. Kleine Bröckchen rieselten zu Boden, als sie heftig kaute. »Mmmm… lecker«, sagte das Orakel genießerisch. Chental Pyrnee hielt die Hand hoch und ließ den Rest des Käses in den dampfenden Kessel plumpsen.
Flint schluckte hörbar vor Enttäuschung. Tanis, der seine Gedanken ahnte, konnte kaum ein Lächeln unterdrücken.
»Morat wußte noch, wie gern du den Käse aus dem Ort magst«, fuhr Raistlin freundlich fort. »Und das hier«, der junge Zauberer hielt einen zugeschnürten Beutel hoch, der offenbar voller Münzen war, »habe ich dir für den Gefallen mitgebracht, um den wir bitten.«
»Und der wäre?« fragte Chental Pyrnee neugierig, als sie den Beutel nahm und in der Hand wog. Der Beutel war schwer und klimperte ordentlich. Sie brauchte ihn nicht auszuleeren und zu zählen, um zu wissen, daß diese Bezahlung für den Dienst reichte, um den man sie bitten würde.
»Vom Zaubermeister habe ich erfahren, daß du den Schlüssel zu einem Portal besitzt, das uns nach Ogerstadt am Rand des Blutmeers bringen kann. Unsere Freunde und mein Bruder sind in diesen Teil der Welt entführt worden und schweben dort in höchster Gefahr. Wir haben nicht genug Zeit, um zu Land oder zu Wasser dorthin zu gelangen, und suchen verzweifelt nach schnelleren Reisemöglichkeiten. Wir sind zu dir gekommen, weil wir darauf vertrauen, daß dir die Dringlichkeit unserer Aufgabe zusagen wird.«
Die häßliche Ogerin machte ein vorwurfsvolles Gesicht und drohte Raistlin mit dem Finger. »Morat sollte nicht überall herumerzählen, daß ich von einem Portal weiß.«
Sie dämpfte verschwörerisch die Stimme und beugte sich näher zu Raistlin, bis ihre Gesichter nur noch um Armeslänge voneinander entfernt waren. Ihr Mund verzog sich, als würde sie, wie selten genug, zu lächeln versuchen. Ihr Atem stank schlimmer als der jedes Pferdes. Das purpurrote Auge quoll aus seiner Höhle vor. »Portale existieren, weil es das Holdervolk gut meint. Sie dürfen nicht aus reinem Eigennutz benutzt werden. Das Holdervolk hat bestimmte Bedingungen gesetzt. Die dazu notwendige Magie ist von höchster Wirksamkeit.«
»Aber gibt es das Holdervolk denn wirklich?« fragte Tanis hinter Raistlin hervor. »Ist das nicht nur eine Legende?«
Das purpurrote Auge betrachtete Tanis forschend, der mit seinen Worten gedankenlos herausgeplatzt war. Der Halbelf rüstete sich für irgendeine unangenehme Reaktion des Orakels, doch Chental Pyrnee schien sich über seine unbedachten Worte mehr zu amüsieren als zu ärgern. »Oh, ich möchte meinen, daß das Holdervolk wirklich existiert«, keckerte die Ogerin. »Es gibt natürlich keinen echten Beweis, wie es für viele Dinge keinen echten Beweis gibt. Es heißt, daß Holdervolk wäre bei Tag unsichtbar und bei Nacht scheu. Aber ich glaube, daß sie immer um uns herum sind. Sie beobachten und warten. Man muß im Leben seiner eigenen Überzeugung folgen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich jedenfalls glaube an das Holdervolk.«
Hier brachte sie ein weiteres, seltenes Lächeln auf die Lippen. Zweimal am Tag gelächelt, wahrscheinlich ein Rekord, dachte Flint bei sich.
Die häßliche Ogerin wandte sich wieder Raistlin zu und wog noch einmal den Geldbeutel in der Hand. Ihr Lächeln verschwand. Mit einem Ruck warf sie den Beutel in seine Richtung. Er landete zu seinen Füßen.
»Ein ganzer Karren voll Münzen würde mir nicht reichen, daß ich dafür das Holdervolk reize«, sagte sie schlicht. »Ich würde mein eigenes Leben aufs Spiel setzen.«
Wieder beugte sie sich zu Raistlin herunter und sprach langsam mit ihrem stinkenden Atem auf ihn ein. »Magie würde die Chancen erhöhen. Also, ich will nicht sagen, daß ich weiß, wo das Portal ist, und ich will nicht sagen, daß ich es nicht weiß. Wenn ich es wüßte, würde es einen magischen Gegenstand kosten, deine Bitte zu erfüllen. Kein Berg Münzen würde den geringsten Unterschied machen. Wenn du etwas Magisches bieten kannst, könnten wir vielleicht darüber reden. Als bemerkenswerter Schüler von Morat hast du vielleicht zufällig so etwas dabei. Wenn dem so ist, gebe ich dir den guten Rat, es anzubieten.«
Zufrieden grinsend ging die unangenehme Hexe wieder dazu über, ihren heißen, blubbernden Kessel umzurühren. Sie plapperte dazu vor sich hin, doch ihr purpurrotes Auge klebte weiter auf Raistlin.
Der junge Magier stand mit müdem, besiegtem Gesichtsausdruck da. Er wollte etwas sagen, überlegte es sich aber noch einmal. Die Stille im Raum wurde bedrückend.
»Raistlin!« flüsterte Tanis, der ihn heranwinkte. Der Magier drehte sich um, damit er sich mit seinem Freund beraten konnte. Flint, der die Ogerin leid war, stellte sich neben die beiden, um zuzuhören.
»Was ist mit der Flaschenpost von Tolpan?« fragte Tanis. »Das ist doch ein magischer Gegenstand, oder?«
»Du hast sie doch dabei?« warf Flint ein.
»Ja«, sagte Raistlin widerstrebend.
»Wir brauchen sie nicht mehr«, ergänzte Tanis. »Vielleicht nimmt sie die.«
»Das verstehst du nicht«, sagte Raistlin störrisch.
»Ich kann praktisch jedes Wort hören, das ihr sagt!« krächzte die Ogerin. Chental Pyrnee legte eine Hand ans Ohr, neigte den Kopf in ihre Richtung und kicherte. »Praktisch jedes Wort«, murmelte sie mißmutig in sich hinein, während sie weiterrührte.
Die drei Freunde rückten von ihr ab und drängten sich näher zusammen. Raistlin sprach sehr leise. »Die Flasche bedeutet mir nichts«, flüsterte der Magier, »aber sie Chental Pyrnee zu geben, verstößt gegen meine Ehre. Diese Ogerin unterstützt jeden, der ihren Preis bezahlt. Auch wenn es um einen bösen Zweck geht. Unter Umständen tut sie dies wieder. Kein magischer Gegenstand, ganz gleich wie unschuldig, sollte ihr in die Hände fallen.«
»Aber sie hat bereits wenigstens einen Gegenstand – den magischen Schlüssel oder womit sie auch das Portal aufschließt«, wunderte sich Flint. »Wäre es deshalb nicht korrekt, wenn wir ihr dafür etwas von uns geben? Auf diese Weise gewinnt sie doch keine Macht dazu.«
»Das stimmt«, räumte Raistlin zögernd ein.
»Schließlich«, fügte Tanis hinzu, »geht es vielleicht um Caramons Leben.«
»Und um Sturms«, stimmte Flint mit ein, »ganz zu schweigen von Tolpan.«
Raistlin runzelte die Stirn. »Ich nehme an, ihr habt recht«, sagte er. Der Zauberer drehte sich wieder zu Chental Pyrnee um, welche die drei beobachtet und zu lauschen versucht hatte. Ihr purpurfarbenes Auge leuchtete interessiert.
Raistlin fummelte in seinem Sack nach der Flaschenpost und zog sie heraus. Auf der Stelle griff Chental Pyrnee danach und hielt sie mit beiden Händen hoch. Ihr abscheuliches Gesicht strahlte vor Freude.
»Eine Flaschenpost!« rief sie aus. »Das ist aber hübsch! Ich habe schon Äonen keine mehr gesehen! Sind allerdings nicht sehr praktisch. Jeder Besitzer kann sie nur einmal verwenden. Aber sie können einem sehr gelegen kommen.« Plötzlich runzelte sie die Stirn. »Ich hoffe, es ist eine gute Nachricht drin, damit ich mich damit nicht langweile.«
»Wenn du Kender magst, wird es dir sehr – «, setzte Flint an, ehe Tanis dem Zwerg die Hand vor den Mund legen konnte.
Chental Pyrnee drehte sich um und starrte den Zwerg argwöhnisch an, aber Raistlin fiel ein und winkte beruhigend ab. »Sie ist von einem Kender auf einer Schiffsreise, und – «
Während sie Raistlin zuhörte, nickte sie eifrig. »Oooh! Ein Kender!« Chental Pyrnee quiekte vor Vergnügen. »Nichts könnte mich mehr erfreuen. Es sind so unterhaltsame Wesen. Vor über sieben Jahren habe ich mal einen eingestellt, der für mich putzen und fegen sollte, aber es hat nicht geklappt, denn eines Tages… Ach, was soll’s. Das ist eine lange Geschichte – wie alle Kendergeschichten –, und wenn ich mich recht erinnere, seid ihr doch etwas in Eile.«