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Mit überraschender Geschwindigkeit eilte die Ogerin zu der großen Truhe und machte sie auf, wobei ihr ausladendes Hinterteil den Inhalt sorgfältig vor den Blicken ihrer Besucher verbarg. Sie wühlte in den Sachen herum, schob geräuschvoll einiges zur Seite, bis sie sich schließlich aufrichtete und umdrehte. In der Hand hielt sie triumphierend einen schimmernden schwarzen Edelstein, der an einer Silberkette hing.

»Da ist es!« verkündete das Orakel und händigte ihn Raistlin aus. »Es ist sehr mächtig, also nutzt es weise.«

»Das Amulett der Finsternis«, sagte Raistlin verwundert, während er es für die anderen hochhielt. Der Edelstein drehte sich langsam an der Kette und fing das fahle Licht im Raum ein.

Flint fand, daß er wie viele andere, schwarze Edelsteine aussah, die er in seinem langen Leben gesehen hatte. Tanis war klar, daß Raistlin das Einzigartige daran erkennen konnte.

»Natürlich«, fügte Chental Pyrnee nachdenklich hinzu, »hatte ich noch keine Gelegenheit, es selbst zu benutzen, deshalb kann ich nur vorschlagen, wie man es am besten anwendet.«

»Ich dachte, das Amulett der Finsternis wäre für immer verloren«, bemerkte Raistlin sinnend.

»Verloren vielleicht«, sagte die Ogerin, »aber nicht für immer. Außerdem habe ich nicht behauptet, daß es das eine, einzige Amulett der Finsternis ist. Das warst du. Alles, was ich garantiere, ist, daß es euch durch das Portal nach Ogerstadt bringt. Das wird es tun, soviel weiß ich. Du kannst es von mir aus auch Senfkuchenamulett nennen.«

»Wie kommen wir an die Magie?« fragte Raistlin.

Nachdem sie sich aufmerksam umgesehen hatte, beugte sich die häßliche Ogerin vor und flüsterte Raistlin etwas ins Ohr. Der Magier nickte, damit die anderen wußten, daß er zufrieden war. Er steckte das Amulett ein.

»Wo finden wir das Portal?« fragte Tanis.

»Ganz einfach«, sagte Chental Pyrnee. Mit schriller Stimme begann sie, umständlich und endlos den Weg zu beschreiben, so kompliziert, daß Tanis der Kopf schwamm. Irgendwie genau nach Osten, am Hundefelsen scharf links, dann an den Bäumen hoch zu einem tiefen Abgrund, an einem stürmischen Überhang entlang, und dann…

»Ich kenne den Ort«, sagte Flint.

Die Ogerin warf dem Zwerg einen argwöhnischen Blick zu. Auch die beiden anderen Gefährten sahen den Zwerg überrascht an. »Ich durchstreife diese Gegend seit dreißig Jahren«, sagte er stolz. »Ihr könnt mir keinen Berg nennen, auf dem ich nicht war oder den ich nicht wenigstens kenne.«

Tanis sah Raistlin zu. »Also los«, sagte der Halbelf voller Tatendrang.

»Ja«, stimmte Raistlin zu.

Wieder verbeugte er sich leicht vor dem Orakel. »Danke für deine Hilfe.«

Alle drei gingen rückwärts aus der Höhle, um die einäugige Hexe im Auge zu behalten, die mit einer Hand ihren brodelnden Kessel umrührte und mit der anderen glücklich die Flaschenpost hochhielt.

»Danke für die Flaschenpost des Kenders!« rief Chental Pyrnee ihnen nach, als sie verschwanden. »Viel Glück mit dem Portal! Bei Portalen weiß man nie so genau. Und wenn euch zufällig dieser alte Griesgram Morat über den Weg läuft, dann sagt ihm, daß er mir mindestens zehn Jahre keinen Besuch mehr schicken soll! Ich bin völlig geschafft!«Müde lagerten die drei Gefährten nur wenige Meilen hinter der Höhle des Orakels. Die merkwürdige, stinkende Ogerin hatte keinen von ihnen in bessere Laune für das vor ihnen liegende Abenteuer versetzt. Tanis sammelte Reisig und abgebrochene Äste für ein Feuer, während Flint eine Leinsamenbrühe zum Abendessen vorbereitete. Raistlin hielt sich abseits. Er aß schweigend. Sein Gesicht wirkte erschöpft und seine Augen besorgt, als sie in die tanzenden Zungen der Flammen starrten.

Schließlich kam Flints unablässiges Genörgel bei dem Magier an. »Wenn ihr umkehren wollt, dann kehrt um!« fauchte Raistlin. »Alle beide! Notfalls finde ich das Portal allein und gehe auch allein nach Ogerstadt!«

»Ich habe nichts von Umkehren gesagt«, schimpfte Flint zurück. »Ich habe über den Weg gesprochen, der morgen vor uns liegt.«

»Flint hat gesagt, daß es ein abgelegener Sims ganz oben auf einer kahlen Klippe ist«, erklärte Tanis einlenkend. »Ziemlich schwierig zu klettern.«

»Wie weit?« fragte Raistlin, der sich wieder gefaßt hatte.

»Nicht weit«, muffelte Flint, der an seiner braunen Brühe nippte. »Das ist nicht das Problem. Ich kann hochklettern und Tanis wohl auch. Aber«, fügte er mit einem Blick auf den wenig beeindruckenden Körper des jungen Zauberers hinzu, »unter Umständen ist es, ähm, für jemanden von deiner, ähm, Kondition, ähm, nicht zu schaffen.«

»Wie weit?« beharrte Raistlin.

»Nur eine, vielleicht zwei Stunden«, meinte Tanis.

»Gut«, sagte Raistlin.

»Woher wissen wir, daß das Orakel die Wahrheit gesagt hat? Woher wissen wir, daß es da oben wirklich ein Portal gibt? Woher wissen wir, daß es nicht eine verdammte Zeitverschwendung ist?« Flints Stimme wurde immer lauter.

»Sie hat die Wahrheit gesagt«, murmelte Raistlin. »Morat hat gesagt, wenn Chental Pyrnee anfängt zu feilschen, dann bleibt sie auch fair.«

»Aber wie willst du die schwierige Klippe hochklettern?«

»Laß das meine Sorge sein«, wies Raistlin ihn zurecht. »Schlaf lieber!«

Flint schnaubte wütend, sagte aber nichts mehr. Er zerrte seine Bettrolle heraus, legte sich mit dem Rücken zu den anderen darauf, und sehr bald und sehr laut hörte man nur noch sein Schnarchen. Nach diesem unangenehmen Zwischenspiel redeten Tanis und der junge Zauberer nicht weiter miteinander.

Lunitari und Solinari schienen an entgegengesetzten Enden des Himmels, von wo aus sie sich langsam aufeinander zu bewegten. Die Bahnen der beiden würden sich zu dieser Zeit im Jahr, im Spätsommer, nicht überschneiden. Hier oben war die Nacht von Sternen erhellt. Das Blattwerk hatte sich schon beträchtlich gelichtet. Der Hang war mit bizarren Steinen übersät. Das Licht der Monde und der Sterne gab den Blick auf vereinzelte, kümmerliche Bäume frei, die zwischen Gipfeln lagen, welche von leuchtendem Schnee bedeckt waren.

Durch die friedliche Nacht drangen die leisen Geräusche der Nachttiere. Ein sanfter Wind raschelte in den Baumkronen. Tanis sog tief den Duft der Pinien, der Erde und der frischen Bergluft ein.

Er wagte einen Blick auf Raistlin, der mit ineinander gelegten Händen immer noch gedankenverloren dasaß. Er wirkte so ausgelaugt und bedrängt, als ob ihn ein scharfer Windstoß umpusten könnte. Tanis sah, wie der junge Magier seufzend aufstand und begann, um das Lagerfeuer herum hin und her zu gehen. Der Halbelf war sich Raistlins körperlicher Grenzen durchaus bewußt, besonders im Vergleich zu seinem robusteren Zwilling. Aber er wußte auch, daß der junge Magier regelmäßig mit Caramon zusammen auf Abenteuer auszog. Und mehr als einmal hatte Tanis einen Funken desselben Feuers gesehen, das Raistlins Halbschwester Kitiara erfüllte. Nein, Flint hatte kein Recht, den jungen Magier zu unterschätzen, beschloß Tanis. Weder körperlich noch sonstwie.

In diesem Augenblick sah Raistlin auf. Er begegnete Tanis’ Blick und gab ihn trotzig zurück.

»Was Flint wirklich zu schaffen macht«, meinte Tanis versöhnlich, »ist der Gedanke an das Blutmeer. Er weiß, daß du die Reise schaffst. Aber er selbst hat panische Angst davor, jedwedes Wasser zu überqueren, und zwar schon seit jenem mißglückten Zelten am Ufer des Krystallmirsees.«

Raistlin gluckste leise und setzte sich wieder. Die Erschöpfung nach den Anstrengungen des Tages lastete wie ein schweres Gewicht auf ihm. »Vielleicht«, sagte der junge Magier leise.

Vor ein paar Monaten hatten Flint und Tolpan einen Ausflug an das jenseitige Ufer des Krystallmirsees gemacht. Caramon und Sturm waren mitgekommen und hatten sich tagsüber mit dem graubärtigen Zwerg im Jagen und Fährtenlesen geübt. Tolpan war mit Raistlin herumgestromert, der sich damit beschäftigt hatte, Kräuter und Blumen für seine Zaubersprüche zu sammeln. Ironischerweise war es jener Tag gewesen, an dem Tolpan Raistlin von seinem guten Freund Asa und dem ungewöhnlichen kräuterkundigen Minotaurus aus Südergod erzählt hatte.