Es war ein herrlicher Tag gewesen, einer der ersten längeren Ausflüge der Gefährten, der nur von einem Zwischenfall am nächsten Morgen überschattet wurde. Tolpan hatte ein Boot »gefunden« und die anderen überredet, es in den friedlichen Krystallmirsee zu schieben. In einiger Entfernung vom Ufer hatte Caramon einen großen, grünen Hecht träge herumschwimmen sehen und mit dem ihm eigenen Feuereifer geprahlt, er könne ihn mit der Hand fangen. Allerdings hatte sich Raistlins Zwillingsbruder zu weit hinausgelehnt, so daß das Boot gekentert war.
Raistlin hatte schnell geschaltet und war unter dem Boot in der dort eingeschlossenen Luftblase aufgetaucht. Tolpan und Sturm waren gute Schwimmer, denen es gelang, das Boot wieder aufzurichten. Flint tauchte, um den schweren Caramon zu retten, der nicht schwimmen konnte und sofort untergegangen war. Die drei warteten besorgt, doch die Zeit verging. Schließlich sprangen Sturm und Tolpan wieder hinein. Sturm zerrte den prustenden Caramon an die Oberfläche, und kurz darauf kam Tolpan wieder hoch, der Flint am Kragen hielt. Der halb ertrunkene, hustende und frierende Zwerg schwor, daß ihn den Rest seines Lebens keiner mehr in ein Boot locken könnte.
»Wenn man bedenkt, wie schlecht Flint schwimmen kann«, sagte Tanis, »war es ziemlich heldenhaft von ihm, daß er versucht hat, deinen Bruder zu retten.«
»Heldenhaft und dumm«, grunzte Raistlin. Aber sein Tonfall klang milder. Tanis, dessen Blick vom rhythmischen Schwanken der Baumkronen abgelenkt wurde, bemerkte nicht, wie der junge Magier auf seiner Decke zusammensank und den Mantel um sich schlang.
»Ja«, grinste Tanis. »Heldenhaft und dumm. Zwei Worte, die gut zusammenpassen.« Er blickte zur Schönheit von Monden und Sternen empor und sog die Friedlichkeit des Ortes in sich auf. »Flint hat diesen Zwischenfall immer wieder erwähnt«, überlegte er leise. »Er erinnert sich bestens daran. Am schlimmsten war es für ihn vielleicht, daß er von Tolpan gerettet wurde. Wie man es auch dreht und wendet, er verdankt dem Kender sein Leben – jedenfalls damals. Daß er diese Schuld zurückzahlen muß, könnte das einzige sein, was ihn wieder aufs Wasser bringt – selbst auf so verfluchtes Wasser wie das Blutmeer.«
Tanis hielt inne, denn seine Gedanken schweiften kurz zu Kitiara. Eine Welle verwirrter Gefühle überrollte ihn. Der Halbelf hatte sich noch nie überwinden können, mit Raistlin über sie zu sprechen. Jetzt war vielleicht ein guter Zeitpunkt.
»Sag mal, Raist«, setzte Tanis an. Dann hörte er regelmäßigen Atem und sah, daß der junge Magier fest eingeschlafen war.
Er ging zu Raistlin hinüber und warf ihm eine zusätzliche Decke über. Die Luft wurde kalt. Tanis setzte sich wieder. Seufzend zog er seinen Mantel um die Schultern. Obwohl die Gegend sicher sein dürfte, beschloß er, lieber ein paar Stunden Wache zu halten, bevor er sich selbst schlafen legte.Spät am nächsten Morgen hatten die Gefährten einen unwegsamen, steilen Pfad an den Berghängen hinter sich gebracht und erreichten den Ort, den die Ogerin beschrieben hatte und den Flint von früheren Ausflügen kannte. Er stand in einer engen Schlucht und zeigte hinauf zu einer Ansammlung Sandsteinzinnen, die Wind und Wasser geformt hatten, bis sie sich wie eine Festung hoch in den Himmel reckten. Auf der Spitze der einen konnten sie einen steinernen Vorsprung sehen, der nach Osten zeigte, wo die einzigartige Struktur von noch imposanteren Bergzügen in den Schatten gestellt wurde.
Flint übernahm die Führung und kletterte am nackten Felsen hoch, wobei er den wenigen, verkrüppelten Bäumen folgte, die sich hartnäckig in den Spalten und Rissen klammerten. Danach kam Tanis, gefolgt von Raistlin. Jeder war über ein Seil um den Leib mit dem nächsten verbunden.
Die Spalte, in der sie hochkletterten, mußte vierhundert Fuß hoch gewesen sein. Sie kamen langsam voran, und zwar vor allem, weil Flint darauf bestand, vorwegzugehen und alles auf seine Weise zu machen. Akribisch genau schob er sich hinauf, indem er kurze Eisenhaken in Armeslänge über seinem Kopf einschlug und sich selbst festband, bevor er mit dem Fuß neuen Halt suchte. Raistlin war mit seinem Vorschlag sehr vorausschauend gewesen, daß der Zwerg alles mitnehmen sollte, was für eine Bergtour notwendig war.
Tanis und Raistlin hatten es dank Flints Vorarbeit einfacher. Dennoch war es selbst für einen erfahrenen Kletterer kein einfacher Weg. Es gab nur wenig sicheren Halt für die Füße. Tanis und Raistlin mußten sich an brüchigen Fels klammern, während sie sich immer weiter nach oben schoben. Gegen Ende kühlte die Luft merklich ab, und unerwartete Windstöße fuhren ihnen in den Rücken.
Flint mußte zugeben, daß Raistlin Mut hatte. Der junge Magier beklagte sich nicht.
Nur einmal ließen Raistlins Kräfte nach, und er rutschte ab. Tanis über ihm konnte jedoch sofort das Seil straff ziehen und den Fall des Magiers abbremsen, während er mit der anderen Hand nach der Verbindung zu Flint griff. Raistlin gelang es, sich selbst hochzuziehen und sich am Felsen festzuhalten. Mit einem Wink gab er Flint zu verstehen, daß er weitersteigen konnte. Der Zwerg war zu Recht davon ausgegangen, daß es seinem sehnigen Freund Tanis keine Mühe machen würde, Raistlin zu sichern.
Nach fast zwei Stunden angestrengten Kletterns erreichten die drei die Spitze. Ausgelaugt sanken sie auf dem Vorsprung zusammen, ehe sie ihre Augen dem zuwandten, was dahinter lag. Der Vorsprung war gerade groß genug für die drei Freunde. Nach Osten hatten sie freien Blick auf ein eindrucksvolles Hochgebirgspanorama mit schneebedeckten Gipfeln.
Direkt unter ihnen lag eine tiefe, zerklüftete Schlucht. Ihr Boden war von Dampf verdeckt, der aus Felsspalten drang. Der Fall in diese bizarre Klamm würde den sicheren Tod bedeuten.
Als Flint auf wackligen Beinen aufstand, merkte er, daß die starken Windböen aus zwei Richtungen auf ihn einschlugen, aus Osten und Westen, denn der Absatz war einem Kreuzfeuer der Naturgewalten ausgesetzt. Die starken Winde zerrten an ihm. Er winkte den beiden anderen zu, sie sollten warten, und kroch unsicher zum anderen Ende des Absatzes, wo er einen seiner Eisenhaken einschlug. Unter Tanis’ und Raistlins Blicken schlug er noch einige ein und zurrte sein Seil daran fest, so daß sie alle gesichert aufstehen konnten, ohne ins Nichts geblasen zu werden.
Sie starrten hinunter.
»Und hier soll das Portal sein?« fragte Tanis zweifelnd. Er mußte seine Frage lauter wiederholen, ehe sie im Brausen des Windes zu verstehen war.
»Ja«, schrie Raistlin mit rauher Stimme.
»Das möchte ich aber nur ungern ausprobieren«, sagte Flint. Die beiden anderen gaben keine Antwort, denn auch sie wollten sich lieber nicht darauf verlassen. Aber welche Wahl hatten sie?
Flint hob einen Stein auf und hielt ihn über den Abgrund. Tanis nickte. Flint ließ los.
Sie warteten minutenlang, in denen sie angestrengt in den tobenden Wind lauschten, um den Aufprall zu hören. Schließlich glaubte Flint, unten auf den Felsen einen Schlag gehört zu haben.
»Kein Portal«, sagte Flint frustriert.
»Lebloser Gegenstand«, wiedersprach Raistlin, der wieder schreien mußte. »Das Portal nimmt keinen leblosen Gegenstand auf, der nicht von einem sterblichen Wesen begleitet wird, und außerdem geht es erst auf, wenn ich den richtigen Spruch sage!«
Nach einer langen Pause fragte Tanis: »Wie können wir da sicher sein?«
Raistlin antwortete nicht sofort. Die drei standen auf dem Felsvorsprung hoch über der Klamm und beugten sich über die zerklüftete Schlucht, die sich unter ihnen auftat. Der Wind umtoste sie, zerrte an ihren Haaren und Kleidern. Flints Seile verhinderten, daß sie hinunterfielen, aber selbst so mußten sie darum kämpfen, das Gleichgewicht zu halten.