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»Wir wissen es nicht«, rief Flint schließlich.

»Stimmt das?« fragte Tanis, an Raistlin gewandt.

»Ja.«

Tanis und Flint sahen sich an. Flint verdrehte die Augen. Tanis zog sein Messer.

»Dann sag den Spruch«, meinte der Halbelf.

Raistlin schloß kurz die Augen, konzentrierte sich und schlug die Augen wieder auf. Er murmelte alte Wörter, die Flint völlig unzusammenhängend fand. Dann rief er in der Gemeinsprache, die seine beiden Freunde verstanden: »Portal öffnen!«

Mit seinem Messer zerschnitt Tanis die Seile, die sie an den Haken hielten. Rasch schob er es in die Scheide zurück. Dann gingen die drei nach vorn und sprangen in die Tiefe. Flint und Raistlin hakten sich an beiden Seiten bei Tanis ein, der in der Mitte blieb. Ein unverständlicher Schrei löste sich von ihren Lippen.

Ob durch den Wind oder durch ihre mangelnde Absprache, jedenfalls verknoteten die drei sich regelrecht, als sie Hals über Kopf strampelnd auf die spitzen Felsen unter ihnen zusausten.

6

Gefangen und ausgesetzt

Tagelang trieben sie dahin. Da Sturm und Caramon keine Ahnung hatten, wo sie waren, war jeder Versuch, in eine bestimmte Richtung zu schwimmen, sinnlos. Außerdem waren die Seile, die sie an den gesplitterten Mast banden, vom Salzwasser geschrumpft. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als das Kinn über die Wellen zu halten und mit den Beinen zu treten. Der Himmel blieb grau und bleiern, und Dunst bedeckte alles. Der Nebel war undurchdringlich. Sie sahen überhaupt nichts.

Obwohl nie die Sonne schien, drang diffuses Licht durch den Dunst, und es war heißer als im Hochsommer in Solace. Die Hitze laugte sie aus wie eine nasse Decke, verbrannte Haut und Augen und dauerte gnadenlos an.

Die Nacht brachte nur wenig Linderung. Sie hätten den Einbruch der Nacht und Erlösung von der Hitze begrüßt, wenn sie dadurch nicht in tiefste Finsternis getaucht worden wären. Sie konnten kaum einander erkennen, viel weniger die Zwillingsmonde, Lunitari und Solinari. In diesem Teil der Welt, wo immer sie sich auch befanden, war der Himmel grau und drückend.

Das Wasser selbst brachte nicht viel Trost. Die brackige, braune, fast schlammige See blieb selbst bei Nacht unangenehm warm und hatte einen stechenden Geruch an sich. Die Wellen schlugen hoch, obwohl wenig Wind ging. Es war beinahe, als ob unter der beständig aufgewühlten Oberfläche irgendwelche Turbulenzen herrschten.

Seit zwei Tagen hatten sie kein Zeichen von Leben gesehen, kein Schiff am Horizont, keinen Vogel, keinen Fisch. Seit zwei Tagen hatten sie weder gegessen noch getrunken noch geschlafen. Seit zwei Tagen strampelten und paddelten sie, so gut sie konnten, an dem Mast hängend weiter, doch Stärke und Willenskraft ließen langsam nach.

»Es könnte schlimmer sein«, hatte Caramon am ersten Tag gesagt.

»Wie?« hatte Sturm gefragt.

»Es könnte Flint sein statt mir«, hatte Caramon entgegnet und sich zu einem Grinsen gezwungen. »Er ist der einzige, den ich kenne, der noch schlechter schwimmt als ich.«

Sturm hatte das Grinsen erwidert. Er hatte sich entschlossen, nicht an seinen Körper zu denken, der von Hunger und Schmerzen geschwächt war. Dennoch begann er zu zweifeln, wieviel länger sie beide noch überleben konnten.

»Ich frage mich…«, setzte Sturm an.

»Was?« fragte Caramon.

»Wo sind wir?«

Am dritten Tag wurde der Dunst irgendwann noch dichter, und gegen Mittag konnten sie kaum vier Schritt weit sehen, wo sie hintrieben. Sturm und Caramon warfen sich nervöse Blicke zu, als sie ein Knarren und Stöhnen vernahmen. Schrille Schreie gellten durch die Luft. Gebrochene Balken und Plankenstücke und schwere, wassergetränkte Klumpen Riementang schaukelten auf einmal um sie herum im Wasser.

Sturm lehnte sich vom Mast weg und konnte etwas Tang mit dem Mund erreichen.

»Was machst du denn?« fragte Caramon entgeistert.

»Ist genießbar«, sagte Sturm, der nur noch ein Flüstern herausbrachte. Er kaute angestrengt. Es war eßbar, obwohl es durch seine rohe, gummiartige Konsistenz schlimmer als geschmacklos war. »Wer weiß, wann wir wieder etwas Anständiges zu Essen bekommen.«

Caramon dachte einen Augenblick darüber nach. Dann stürzte er sich, so gut er konnte, auf den nächsten Haufen, der vorbeitrieb, und erwischte auch etwas von den rotbraunen, schmutzigen Pflanzen. Möglichst ohne nachzudenken, kaute der Zwilling entschlossen darauf herum, konnte den Tang jedoch nicht herunterwürgen. Voller Abscheu spuckte Caramon alles wieder aus.

Die braunen Augen streng auf Caramon gerichtet, kaute Sturm weiter.

Nach kurzem Überlegen versuchte Caramon erneut, den Tang zu erreichen, doch es gelang ihm nicht. Die Pflanzen trieben an ihm vorbei.

Das Stöhnen und Schreien wurde lauter. Dann folgte ein Knall und splitternde Geräusche, als wenn… Ja, was? Es klang, als würde ein Schiff auflaufen, als würde Holz brechen, als würde etwas auf einem unerkannten Riff Leck schlagen. Der chaotische Lärm schwoll wie durch ein geisterhaftes Echo an und wieder ab.

Regentropfen mischten sich in den Dunst und prasselten auf ihre Gesichter herab. Die Wellen legten sich, so daß die See unheimlich ruhig wurde. Sie waren von geisterhafter, grauweißer Leere umgeben.

»Was kannst du sehen?« fragte Caramon mit rauher, brüchiger Stimme.

»Nichts«, erwiderte Sturm. »Und du?«

»Weniger als nichts.«

Plötzlich ragte eine große Masse, eine beeindruckende Ansammlung von Umrissen, vor ihnen aus dem Dunst. Einen Augenblick geriet Caramon in Panik, weil er glaubte, ein gewaltiges Seeungeheuer würde sich auf sie stürzen. Dann klärte sich sein Blick ein wenig, und trotz seiner Erschöpfung erkannte er, daß die Masse in Wirklichkeit aus einer Reihe Wracks und verstreuten Überresten von Schiffen bestand. Es knarrte, als die Wracks durch das eigentümlich ruhige Wasser glitten.

Die verfaulenden Schiffe waren ekelhaft weiß wie der Bauch eines toten Fisches und von klaffenden Löchern übersät. Ihr Holz war voller Blut- und Rostflecken und von gelbgrünem Schleim überzogen. Merkwürdige Muscheln und Meerestiere hingen an den Seiten. An den Masten flatterten zerfetzte Segel. Der Wind stöhnte durch die Takelage. Es erschien unmöglich, daß diese Schiffe noch schwammen.

»Sieh nur!« rief Caramon.

Ein dunkler Schatten glitt auf sie zu, das größte Schiff der leckgeschlagenen Flotte. Am Bug stand eine einzelne, verhüllte Gestalt. Drei Leichen baumelten leise schaukelnd an einem hohen Mast. Als sich das Schiff auf ein Dutzend Fuß genähert hatte, drehte sich die Gestalt mit der Kapuze um und neigte den Kopf, als ob sie sie beobachten würde.

Der Kapuzenmann zeigte auf Sturm und Caramon. Das Phantomschiff war so nah gekommen, daß Caramon die feuerroten Augen in den schwarzen Höhlen seines konturlosen Gesichts sehen konnte. Mit seinem knochigen Finger winkte der vermummte Geist – denn ein Geist mußte das Wesen einfach sein, dachte Caramon.

Das Schiff fuhr so nahe heran, daß die beiden ausgesetzten Freunde hätten hochgreifen und es berühren können, wenn sie die Arme dazu frei gehabt hätten. Einzelne, verrottete Planken ragten aus der Seite heraus. Caramon mußte fest treten, um nicht von einem von ihnen getroffen zu werden.

Während das Schiff vorbeifuhr, brachen Stücke von ihm ab und krachten aufs Deck oder platschten ins Wasser. Der vermummte Geist rührte sich nicht, doch seine Augen folgten ihnen. Caramon fühlte den furchtbaren Blick auf sich und Sturm lasten.

So plötzlich wie sie gekommen war, verschwand die Geisterflotte wieder im Dunst. Durch ihren Abzug wurde das brackige Wasser um Sturm und Caramon aufgewühlt, und der Wind frischte auf und steigerte sich schnell zum Sturm. Eine starke Strömung zog an Caramons Beinen. Wellen brachen über ihnen zusammen und füllten Mund und Nase mit Wasser. Der merkwürdige Strudel zog sie nach unten.

Mit einer letzten Kraftanstrengung schlug Caramon mit den Beinen, um sich über Wasser zu halten. Als er nach Luft schnappte, bemerkte er, daß sein Freund noch schlimmer dran war. Sturm hing tief im Salzwasser, so daß seine Lungen fast barsten. Caramon gab sich Mühe, Sturm nach Kräften hochzuhieven, während er gegen den enormen Sog der See ankämpfte.