»Hmm«, sagte Tolpan. »Sargonnas, Kumpan der Takhisis…« Tolpan leckte den letzten Rest vom Löffel ab und schob Löffel und Schale wieder unter dem Zellengitter hindurch.
»Ja«, sagte Dogz begeistert. »Treuer Diener der Königin der Finsternis. Ich wußte nicht, daß du dich so gut mit den Göttern von Krynn auskennst.«
»Oh, ich weiß von allem möglichen ein bißchen. Überall wo ich hinkomme, schnappe ich ein paar Dinge auf – überhaupt, wenn dieser Nachtmeister auf der Insel Karthay lebt und sie nie verläßt, was macht er denn da die ganze Zeit?«
Dogz zögerte, schüttelte dann aber den Kopf.
Von oben kam ein Ruf. Tolpan erkannte die Stimme von Sarkis, der nie weit war, besonders, wenn er Gelegenheit bekam, Dogz herumzukommandieren.
Peinlich berührt ergriff Dogz den Löffel und die leere Schale und eilte dann die Stufen hinauf.
Nicht lange darauf brachte Dogz eines Tages wieder den gewöhnlichen, gräßlichen Haferschleim. Tolpan vermutete, daß das ein Zeichen für die Ankunft des hohen Gesandten des Nachtmeisters war. Später am Tag polterte eine Gruppe Minotauren die Treppe herunter, um einen Blick auf Tolpan zu werfen. Außer ein paar der bekannten Folterknechte war Sarkis dabei, der neben Clief-Eth unbedeutend und mickrig wirkte, und dazu ein Neuankömmling, der sich von den anderen unterschied.
Den Neuankömmling sah sich Tolpan genauer an. Er schien eine Art junger, kraftstrotzender Schamane zu sein, denn er trug Pelze und einen gefiederten Kopfschmuck. Seine Hörner waren so gewaltig, daß sie fast die hohe Decke streiften.
Die anderen behandelten den Schamanen unterwürfig, der hin und her schritt und Tolpan von allen Seiten schief ansah.
»Hoch mit dir, Kender«, knurrte Sarkis. »Du hast hohen Besuch.«
Der Minotaurenschamane sah stirnrunzelnd auf. Clief-Eth warf Sarkis einen ärgerlichen Blick zu.
Da Tolpan sich immer über Gesellschaft freute, gab er sich größte Mühe, für diesen wichtigen Besucher fröhlich und ansehnlich auszusehen. Das war gar nicht so einfach angesichts der Tatsache, daß er von heilenden Wunden übersät war, daß seine Kleider in Fetzen hingen und seine Füße bloß und zerschunden waren. Er blickte dem wichtigen Besucher ins Gesicht. Dieser schaute ihn seinerseits forschend an.
»Wir haben bei dem kleinen Luder alles versucht, Fesz«, beklagte sich Clief-Eth bei dem Schamanen. »Er gibt einfach nicht nach. Ich denke, wir bringen ihn am besten um und fertig.«
»Du wirst nicht fürs Denken bezahlt«, grollte Fesz beinahe sanft, wie Tolpan fand. »Und wenn das so wäre, würde dein Lohn sehr gering ausfallen.«
Clief-Eth schnaubte, sagte aber nichts. Fesz drehte sich wieder zu der vergitterten Zelle um. Da der Kender dem riesigen Minotauren nicht einmal bis zur Brust reichte, ließ sich Fesz auf die Knie nieder und blickte Tolpan direkt ins Gesicht.
Tolpan roch den fauligen Atem des Minotaurus, seinen Achselschweiß, die ranzigen Streifen seiner Pelzkleider, doch er war zu gut erzogen, um gerade jetzt etwas darüber zu erwähnen.
»Du bist aber ein netter, kleiner Bursche«, schnurrte Fesz, der seine große sehnige Hand ausstreckte, um Tolpan die Wange zu streicheln.
Seine Stimme klang melodiös und wirkte beruhigend auf den Kender. Seine Hand fühlte sich irgendwie gut an, mußte Tolpan zugeben.
»Du bist nicht unser Feind; du bist unser Freund«, sagte Fesz mit tiefer Stimme. »Das sehe ich doch. Es war falsch, daß die anderen dich so schlecht behandelt haben.« Sein Kopf machte eine mißbilligende Geste in Richtung Clief-Eth.
»Falsch und grausam. Diese Städter haben so grausame Methoden. Mir blutet das Herz bei dem Gedanken, daß sie dir Schmerzen zugefügt haben. Der Nachtmeister persönlich hat mich geschickt. Auf sein Geheiß hin bin ich sofort gekommen, als ich von deinem Schicksal erfahren habe.«
Tolpan hörte zu. Obwohl der Atem immer noch ekelhaft roch, lullten ihn die Worte ein. Und hinter den faustgroßen Augen des Schamanen glaubte er einen Schimmer von Freundlichkeit zu entdecken, der in ihm Hoffnung weckte.
»Ich habe dir ein Stärkungsmittel mitgebracht, Tolpan Barfuß«, erklärte Fesz beruhigend. »Das wird die Sache sehr viel besser erledigen als alle Folter. Es macht dich zu meinem Freunde, dann sind meine Freunde deine Freunde und meine Feinde deine Feinde. Du hast den verständlichen Wunsch, dich für das Gute einzusetzen. Das hier jedoch wird dich auf meine Seite bringen – auf die Seite des Bösen.«
Die großen Hände des Minotaurus reckten sich etwas weiter und ergriffen Tolpan am Hals, um ihn fest, aber nicht zu fest zu halten. Er konnte immer noch atmen. Tolpan wand sich abwehrend, als der Minotaurus ihn näher heranzog. Obwohl er nicht nur an der Kehle, sondern auch von dem zwingenden Blick des Schamanen gehalten wurde, bemerkte Tolpan, wie Fesz mit der anderen Hand ein Zeichen gab. Zwei der übrigen Minotauren kamen rasch herbei. Sie trugen einen verzierten Kelch. Großspurig nahm Clief-Eth dem Minotaurus den Kelch ab und kam hinter Fesz hervor.
Fesz sperrte dem Kender die Kiefer auseinander, während Clief-Eth Tolpan eine grün-goldene Flüssigkeit aus dem Kelch in den Hals kippte. Schmeckt nicht schlecht, dachte Tolpan. Er fand die Vorstellung aufregend, daß sie ihn böse machen wollten. Das war Tolpans letzter bewußter Gedanke.
Der Kopf des Kenders sank auf die Brust, als der Trank zu wirken begann. Fesz ließ ihn auf den Boden sinken.
Nachdem er aufgestanden war, warf Fesz einen zufriedenen Blick auf Tolpan Barfuß. »Bringt ihn in mein Gästezimmer«, befahl der Schamane. »Ich kümmere mich selbst um ihn. Von jetzt an ist er einer von uns.«
Clief-Eth drehte sich um und bellte Befehle, doch Fesz packte ihn an der Schulter und riß ihn zurück. Der Schamane holte aus, schlug dem Kerkermeister ins Gesicht und stieß ihn dann zu Boden. Clief-Eth kam taumelnd wieder hoch. Betreten rieb er sich die Wange, wagte jedoch keine Gegenwehr. Statt dessen machte er eine leichte armselige Verbeugung.
Sarkis und die anderen Minotauren im Hintergrund grinsten höhnisch.
»Dieser Kender ist kein Zauberer!« knurrte Fesz Clief-Eth zornig an. »Das sieht doch jeder Trottel!«Hundert Jahre lang hatte man die Insel Karthay für einsam und verlassen gehalten. Kaum jemand reiste hierher. Wer es riskierte, wurde von Rieseninsekten, Heuschreckenschwärmen, lauernden Erdkolossen und todbringenden Sandbewohnern empfangen, die in den Dünen und Felsen umherkrochen. Nur wenige überlebten den heulenden Wind und den peitschenden Sand, ganz zu schweigen von der unbarmherzigen, grausamen Hitze der endlosen Tage und der bitteren Kälte der qualvollen Nächte auf der Insel.
Vor Hunderten von Jahren – keiner wußte genau, zu welchem Zeitpunkt – hatte es auf dieser Insel eine große Stadt gegeben, eine berühmte Stadt, die Karthay geheißen hatte. Es hatte eindrucksvolle Gebäude, saubere, ordentliche Straßen und eine blühende Zivilisation gegeben. Angeblich hatte sogar eine große Universität für höhere Studien existiert und eine Bibliothek, die für ihren Reichtum an Büchern gerühmt wurde.
Dann, vor Hunderten, vielleicht Tausenden von Jahren, hatte eine unbekannte Katastrophe die Stadt Karthay heimgesucht. Jetzt lag sie unter Tonnen von Gestein unter einer eingestürzten Klippe am Südrand der Insel begraben. Hier und da ragten zerbrochene Mauern und erkennbare Häuserteile aus dem Boden. Beim Zusammenbruch der großen Stadt hatten sich in den Trümmern unzählige Tunnel und Schluchten gebildet, ein Labyrinth unterirdischer Gänge. Einige waren durch eingeschlossene Gase sehr tückisch, andere mit Sandgruben übersät, wieder andere erstreckten sich meilenweit sicher und ohne Unterbrechung.
Das ungastliche Klima in den verlassenen Ruinen machte sie zum idealen Schlupfwinkel für den Nachtmeister. Obwohl ein paar beunruhigende Probleme aufgetaucht waren, machte sein Plan Fortschritte. Er wollte Sargonnas, den Gott der Vergeltung, in die Welt rufen und sich mit den feindseligen und bösen Rassen von Ansalon verbünden.
Der Nachtmeister hatte sein Heiligtum in einem ausgehöhlten Bereich der eingestürzten Ruinen errichtet, wo einst die große Bibliothek gestanden hatte. Von dieser einst großen Stätte des Lernens waren nur ein paar vereinzelte Säulen und hier und dort wenige vom Wind verwehte Fetzen uralter Bücher erhalten. Um das Lager des Nachtmeisters, das nicht überdacht war, lag ein Ring aus Feuern.