Immer in der Nähe des Nachtmeisters hielten sich die beiden verbliebenen Minotaurenschamanen der Hohen Drei auf, die jeder seiner Launen nachkamen und aus jedem Wort, jeder Handlung von ihm lernten. Um das Heiligtum herum lagerten in respektvoller Entfernung eine Gruppe ergebener Jünger und eine kleine Armee kampferprobter Minotauren, die unter dem Befehl des Nachtmeisters in Karthay stationiert waren.
In dieser Nacht wurde das Lager von einem seltenen Gast aufgesucht, der dem Nachtmeister äußerst wichtige Informationen brachte. Das Schuppenwesen mit seinen winzigen Flügeln und einer häßlichen Schnauze saß auf einer bröckelnden Mauer neben dem Oberkleriker der Minotauren, wo es nach der langen Reise mit starkem, heißem Schnaps seinen Durst löschte. Sein wahres Aussehen war nur dem Nachtmeister und den Hohen Drei bekannt. Wenn die Jünger und die minotaurischen Soldaten es gewagt hätten, durch die Dunkelheit zu spähen, hätten sie nur eine kleine Gestalt in Umhang und Kapuze gesehen.
»Ich habe mich geschickt verkleidet«, berichtete das Schuppenwesen mit rauher, aber schriller Stimme, »und jeden gefragt, den ich in diesem langweiligen, abgelegenen Nest getroffen habe, aber keiner wußte, wohin sie verschwunden sind oder weshalb.« Das Wesen füllte sich seine Steinguttasse noch einmal und nahm zufrieden einen tiefen Schluck.
Ein säuerlicher, schwefliger Geruch ging von dem Wesen aus, der vom Wind zu den lagernden Minotauren getragen wurde. Einige der gehörnten Stiermenschen, die doch für ihren eigenen Gestank berüchtigt waren, wechselten Blicke.
Der Nachtmeister mit seinen riesigen, intelligenten Augen verlagerte beim Zuhören das Gewicht. Winzige Glöckchen klingelten, wenn er sich bewegte. Um seine Schultern hatte er eine schwere Pelzrobe gelegt. Er seufzte, denn er wartete, daß der mit den Schuppen in seiner Erzählung fortfuhr.
Der Wind frischte auf, pfiff durch die Ruinen und blies ihnen Sand und Staub ins Gesicht. Die glühende Hitze des Tages war der rauhen Kälte der Nacht gewichen.
»Aber über meine Beziehungen«, zischte das Wesen, »habe ich herausbekommen, daß einer von ihnen einer jungen Frau, offenbar seiner Schwester, eine Nachricht geschickt hat. Und diese Frau ist auf dem Weg hierher!«
»Hierher?«
Nachdem es wachsam über seine Schulter geblickt hatte, lehnte sich das Schuppenwesen nach vorn und flüsterte dem Nachtmeister alles zu. Es erzählte ihm, wie die Frau namens Kitiara die Nachricht erhalten hatte und sofort verschwunden war. Innerhalb der nächsten Tage würde sie wohl auf der Insel auftauchen. Mit gespenstischem Zwinkern versicherte das Schuppenwesen dem Nachtmeister, daß seine Quellen absolut zuverlässig waren. Man durfte der Nachricht Glauben schenken.
Aufgebläht vor arrogantem Stolz nahm der Besucher einen weiteren tiefen Schluck.
Mit sichtlicher Ungeduld betrachtete der Nachtmeister das Wesen. »Und du glaubst«, grollte der Nachtmeister, »daß der, den ich suche, dieser junge Magier aus Solace ist – nicht der Gefangene in Lacynos?«
»Ja«, zischte der Besucher, »und der junge Magier ist verschwunden. Er hat Solace mit zwei Freunden verlassen. Auch sie könnten auf dem Weg hierher sein.«
Seufzend hob der Nachtmeister seinen riesigen Kopf. Seine Hörner ragten nach oben, als er die Augen an den dunklen Himmel wandte, um nach Vorzeichen Ausschau zu halten. Der Nachtmeister war unbesorgt. Im Gegenteil, er war außerordentlich zuversichtlich.
Es ging etwas vor sich, doch das konnte nichts Wichtiges sein. Das waren lästige Kleinigkeiten. Fesz war unterwegs, um mit dem Gefangenen in Lacynos fertigzuwerden. Er selbst würde sich auf die Ankunft der jungen Frau vorbereiten. Die anderen würden wieder auftauchen, egal wohin sie verschwunden waren. Welche Gefahr konnten sie schon für das unausweichliche Kommen von Sargonnas darstellen?
»Du hast deine Sache gut gemacht«, knurrte der Nachtmeister dem Schuppenwesen zu.
Dieses kippte erneut Schnaps in sich hinein. Noch vor Tagesanbruch würde es verschwinden. Keiner konnte schwören, es gesehen zu haben. Keiner würde sagen können, wer oder was dem Nachtmeister gedient hatte.
7
Flucht aus Ogerstadt
Rums. Raistlin, Flint und Tanis landeten ineinander verknäult auf dem Boden eines kleinen, rechteckigen, nichtssagenden Raums mit gekalkten Wänden. Obwohl erst Sekunden verstrichen waren, seit sie von der Klippe gesprungen waren, hatte die Zeit während ihres Falls scheinbar angehalten und sich gedehnt. Alle drei fanden sich atemlos, benommen und orientierungslos wieder. Flint war der erste der Gefährten, der taumelnd auf die Beine kam, gefolgt von dem Halbelfen und dem jungen Zauberer.
Kein Fenster, keine Luke unterbrach die glatten Steinmauern und die Decke des Raums, in dem sie sich befanden. Der einzige Zugang schien eine dicke Eichentür zu sein. Obwohl er durch das Erlebnis der Reise durch das Portal immer noch sprachlos war, kroch Tanis hin und drückte sein Ohr an die Tür, konnte jedoch nichts hören.
In der Mitte des Raums stand sein einziger interessanter Einrichtungsgegenstand, ein riesiges, vergoldetes, ovales Stück Glas. Es war glänzend und verlockend wie ein Spiegel, und doch war es kein Spiegel. Das Oval lag auf einem Holzpodest, das in einem scharfen Winkel hochgelehnt war. An seinem breitesten Punkt bog sich die reflektierende Oberfläche des Ovals zu einer weiten Vertiefung, die in der Mitte von einem haarfeinen Schlitz unterbrochen wurde.
Mit dem schwarzen Edelstein, den die Ogerin ihm gegeben hatte, näherte sich Raistlin dem Oval. Er umklammerte das Amulett fest. Dann murmelte er einen obskuren Spruch, dem ein einfacher Befehl folgte: »Tor schließen.«
Die Oberfläche bewegte sich fast unmerklich wie ein Augenzwinkern. Der haarfeine Ritz verschwand. Raistlin nahm das Amulett ab, wickelte es in ein Tuch und steckte es in eine der Falten seines Umhangs.
»Natürlich bin ich dankbar, daß wir nicht auf diesen Felsen zerschmettert sind«, sagte Flint, »aber wo sind wir?«
Raistlin, der damit beschäftigt war, das Amulett zu verbergen, sagte nichts. Tanis war an der Tür aufgestanden und zog vergeblich an der stählernen Klinke.
»Abgeschlossen«, sagte Tanis.
»Hab’ ich eigentlich erwartet«, sagte Raistlin.
»Fest versiegelt«, fuhr Tanis fort, der sich hingehockt hatte und durch das Schlüsselloch spähte. »Kein Luftzug. Ich kann nichts weiter sehen als einen dunklen Gang und ein paar Türen.«
»Innen oder außen?« wollte Flint wissen, der dazu kam.
»Was?« fragte Tanis.
»Ist die Tür von innen oder außen verschlossen?«
»Ja, natürlich von außen, oder?« fragte Tanis verwirrt.
»Sei dir da nicht so sicher«, warnte Raistlin, der herüber kam, um sich die Tür anzusehen. Er lehnte sich an die Wand und schüttelte den Kopf, damit er wieder klar würde. Flint und Tanis wechselten Blicke. »Mir scheint, ich bin noch etwas wacklig auf den Beinen«, erklärte der junge Magier.
»Es ist von innen abgeschlossen«, erklärte Flint bestimmt, nachdem er sich den Mechanismus des Schlosses gründlich angesehen hatte.
»Wie kann es von innen abgeschlossen sein? Das ist doch völlig unlogisch.«
Doch Flint achtete nicht länger auf Tanis. Er hatte eines seiner langen, dünnen Messer und eine Nähnadel herausgeholt und pulte in dem Schloß herum. Der kleine Zwerg mußte sich nicht weit bücken, um genau zu sehen, was er tat. Minutenlang sagte keiner ein Wort, während er mit seinen Möchtegerndietrichen an dem Schloß herumfummelte.
»Wie schade, daß Tolpan nicht bei uns ist«, sagte Tanis. Er lächelte, als ihm aufging, daß er den Kender tatsächlich vermißte. »Der würde mit dem Schloß kurzen Prozeß machen.«
Flint hielt inne und sah den Halbelfen an. »Dieser Türknauf von Kender würde so lange brauchen, dir davon zu erzählen, wie Onkel Fallenspringer einmal in einer ähnlichen Lage war, daß er ganz vergessen würde, was er machen soll.« Der Zwerg widmete sich wieder seiner Aufgabe.