Das rhythmische Knarren des Schiffes veränderte sich plötzlich. Sein sanftes Schaukeln wurde durch einen plötzlichen Ruck unterbrochen. Ein Windstoß riß die Luke über dem Schreibplatz auf. Tolpan sprang auf und spähte hinaus, denn er freute sich über die Ablenkung. Gut! Ein Sturm zog auf! Tolpan hatte noch nie einen Sturm auf einem Schiff erlebt. Ganz sicher würde das faszinierend und lustig sein. Er setzte sich wieder hin und kritzelte schneller, um fertig zu werden, damit er dann an Deck gehen und den Sturm betrachten konnte.Sturm war gerade zum Hinterdeck aufgebrochen, als die ersten Hagelkörner ihn mit der Wucht tausend kleiner, gezielter Geschosse trafen. Das Deck hob sich unter seinen Füßen, und er rutschte auf den Eiskörnern aus, fand jedoch das Gleichgewicht wieder. Sturm blickte auf und sah, daß die drohende Wolkenmasse so schnell über sie gekommen war, daß der Himmel plötzlich überall schwarz war. Über ihm zuckten Blitze. Flammen züngelten auf dem Mast der Venora. Sturm hielt sich an der Reling fest, stemmte sich gegen den Wind und begann, sich zum Posten des Kapitäns im Heck zu ziehen.
Einen Augenblick später war Sturm fast geblendet von dem prasselnden Regen, der mit brutaler Kraft auf ihn eintrommelte. Als er mit einer Hand seine Augen schützte und mit der anderen die Reling umklammerte, kam Sturm kaum noch vorwärts.
Was er sah, als er das Heck erreichte, ließ es ihm flau im Magen werden. Eine Gruppe Matrosen bildete vor ihm eine Traube. Sie bemühten sich verzweifelt, ein kleines Boot in das aufgewühlte Wasser herunterzulassen. Sturm kämpfte sich zu ihnen durch. Da hob sich das Schiff, und er fiel zurück. Bis er sich mühsam wieder aufgerichtet hatte, waren das Beiboot und die Seeleute an der Seite verschwunden.
Unter Sturms erstaunten Blicken sprangen zahlreiche andere Besatzungsmitglieder der Venora von Bord, um sich zu retten. Sie hielten so etwas wie schnell erdachte Rettungswesten in den Händen. Als er die Reling erreicht hatte, über die sie gesprungen waren, spähte Sturm hinunter, konnte jedoch nichts sehen als die dunklen Wellen, die gegen das Schiff schlugen.
Daß sie einfach desertierten, zeugte von Feigheit, war aber auch eigenartig. Erwarteten die Deserteure etwa, in der rauhen See besser davonzukommen als an Bord der vom Sturm umhergeworfenen Venora? War das eine Art Meuterei? Sturm blickte zum Steuerdeck hoch, wo normalerweise Kapitän Murloch persönlich stand. Aus Sturms Verblüffung wurde Wut und Angst. Murloch war nicht da. Niemand hielt das Steuerrad, das sich drehte wie wild.
Wirklich eigenartig. Kapitän Murloch schien nicht zu den Menschen zu gehören, die ihre Pflichten vernachlässigen. Sturm hatte ihn persönlich unter den Seefahrern ausgewählt, deren Schiffe in Eastport lagen. Murlochs trauriges, faltenreiches Gesicht deutete auf Erfahrung hin. Tolpan hatte dem Kapitän den Spitznamen »Walroß« verpaßt, denn seine langen Zähne ragten bis über die Unterlippe heraus.
Ein gewaltiges Krachen ließ Sturm nach oben blicken. Mit der eigentümlichen Grazie eines Ballettänzers brach die obere Hälfte des Masts der Venora ab und kippte langsam in die aufgewühlte See. Niemand hatte daran gedacht, die Segel zu raffen, solange der Sturm nahte, und jetzt war niemand mehr da, der sich um dieses letzte Fiasko kümmern konnte.
Sturm erschrak, als ihm seine Gefährten einfielen. Er fing an, sich an der Reling entlang hinter die kleine Kajüte zu ziehen, wo er Caramon zuletzt beim Trinken mit ein paar Seeleuten gesehen hatte. Das Deck der Venora tanzte unter seinen Füßen wild auf und ab. Das Schiff drehte sich so schnell im Kreis, daß Sturm schwindelig wurde. Wind und Regen umpeitschten ihn und machten einen ohrenbetäubenden Krach.
Nach einer scheinbaren Ewigkeit sprang Sturm schließlich von der Reling zu der kleinen Kajüte und zog sich daran nach hinten, wo er etwas Schutz vor dem Anprall des Sturms fand.
Entsetzt schüttelte Sturm den Kopf angesichts dieses Anblicks: Caramon lag ausgestreckt und mit verträumt geschlossenen Augen auf dem Deck. Neben ihm kullerte ein umgekippter Krug hin und her. Betrunken, dachte Sturm entnervt. Sturm hatte einen ausgesprochenen Respekt vor den Kampfkünsten und der Tapferkeit seines Freundes entwickelt, wußte aber bei sich ganz genau, daß Caramon einfach zu großmütig war, als daß man sich immer auf sein Urteil verlassen könnte. Doch dieser Fehler, zu diesem speziellen Zeitpunkt, erschien beinahe unverzeihlich. Und wo waren seine Zechkumpane? Sie hatten Caramon eindeutig im Stich gelassen.
Das Deck hob sich ruckartig unter Sturms Füßen. Er stemmte sich gegen die Seite der Kajüte, während er abschätzte, wie schwierig es sein würde, Caramon in den geringen Schutz zu zerren, den das Innere der Kajüte zu bieten hatte. Dann mußte er ihn noch wachrütteln. Danach mußte er auch noch Tolpan finden, dachte Sturm finster. Und all das in der Annahme, daß noch genug Mannschaftsmitglieder an Bord waren, um die Venora durch diesen Sturm zu bringen.
Einen Fuß gegen die Kajütwand gestemmt, beugte sich Sturm vor, um seinen Freund zu packen. Obwohl das Deck vom Regen schlüpfrig war, würde es schwierig werden, Caramons Gewicht von der Stelle zu bewegen. Erst da bemerkte Sturm, daß Caramons Waffen fehlten. Bevor er sich über diese merkwürdige Sache Gedanken machen konnte, hörte er einen leisen Schritt. Sturm sah hoch, doch es war zu spät. Der junge Solamnier spürte einen Schlag auf den Kopf. Dann kam ein Gefühl, als würde er in ein tiefes, dunkles, bodenloses Loch fallen, und dabei pfiff der Wind in seinen Ohren.Tolpan war damit beschäftigt gewesen, seinen Brief an Raistlin zu beenden. Als die immer turbulenteren Bewegungen des Schiffes die Öllampe von der Schreibtischplatte rutschen und zerbrechen ließen, war die Kabine plötzlich in Finsternis getaucht. Tolpan sah erwartungsvoll hoch. Gerade noch rechtzeitig konnte er die magische Flaschenpost festhalten, bevor sie vom Tisch rollte.
»Oh… der Sturm. Hab’ ich glatt vergessen«, murmelte der Kender in sich hinein. Schnell rollte er das Pergament zusammen und stopfte es in die Flasche. Er knipste ein Stückchen Korken ab und krümelte es hinein. Dann sah er zu, wie der Brief einen goldenen Glanz annahm, bevor er verschwand. Gemäß den Anweisungen, an die er sich erinnerte, verkorkte er rasch die Flasche und hielt sie hoch. Sie sah aus wie leer.
Auf Zehenspitzen stehend preßte Tolpan sein Gesicht an die Luke. Im schwachen Licht konnte er nicht viel mehr erkennen, als daß es wirklich ein ordentlicher Sturm war. Er öffnete das Bullauge und schmiß die Flasche mit viel Schwung in die Wogen.
Als er von dem Bullauge zurücktrat, neigte sich die Kabine in einem verrückten Winkel, und der Stuhl, auf dem Tolpan gesessen hatte, kippte gegen Tolpans Schienbeine. Lichtblitze erfüllten die Luke mit strahlend weißem Licht, verloschen jedoch fast im selben Moment, in dem sie aufgetaucht waren. Zwischen zwei Donnerschlägen hörte Tolpan etwas anderes oben auf Deck.
Im vergeblichen Versuch, seine schmerzenden Schienbeine zu vergessen, begann Tolpan, in der Kabine herumzuspringen, um seine restlichen Beutel aufzusammeln und in den Rucksack zu stecken. »Wer weiß, was bei so einem Sturm geschieht«, überlegte Tolpan laut. »Hört sich an, als ob es an Deck sogar noch aufregender ist. Sturm und Caramon müssen sich da oben prächtig amüsieren. Ich wette, sie können es gar nicht erwarten, daß ich auch endlich komme.« Er nahm sich noch Zeit, seinen Hupak, die geliebte Waffe der Kender, über den Rücken zu werfen.
Tolpan blieb an der Tür stehen und blickte noch einmal zurück. Ein neuer Blitz an der Luke blendete ihn kurzzeitig.
»Ich frage mich, ob man die magische Flaschenpost auch bei Sturm verwenden kann«, grübelte er. »Ach, was. Zu spät.« Er drehte sich wieder um und hüpfte durch den engen Gang, der von der Kabine zur Treppe führte und dann zum Deck hinauf.