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Tanis hielt Raistlin am Handgelenk fest. »Alles in Ordnung?« fragte der Halbelf seine beiden Freunde.

Flint zappelte auf der anderen Seite von Raistlin herum. Der Abwasserkanal war nur ungefähr sechs Fuß breit. Flints Füße konnten den unregelmäßigen, von Unrat übersäten Grund nur knapp erreichen. Daher mußte der Zwerg sich gelegentlich hochstoßen, um sein Kinn über dem schleimigen Wasser zu halten.

»Mir geht’s gut. Mach dir um mich keine Sorgen«, sagte Raistlin gereizt.

Flint grunzte zur Antwort. Auch ihm ging es gut, falls man es gut nennen konnte, in einem schmierigen, scheußlichen Abwasserkanal fast zu ertrinken.

Der Abwasserstrom umfloß sie und zog sie in östliche Richtung, also Kirsig zufolge zur Küste des Blutmeers. Die Strömung riß sie mit überraschender Kraft mit. Sie hatten alle Hände voll zu tun, sich aneinander festzuhalten und über Wasser zu bleiben.

»Festhalten«,warnte Tanis, der seinen Griff um Raistlin verstärkte. »Der Kanal muß wohl ein Gefälle überwinden. Wir werden bestimmt noch schneller.«

Flint klammerte sich mit einer Hand an Raistlins Schulter fest, als die drei von der Strömung immer schneller und schneller davongetragen wurden. Schwindel und Entsetzen erfaßten die Gefährten. Sie wirbelten an allem möglichen Abfall und toten Wesen vorbei, die in Spalten steckten oder an vorstehenden Steinen festhingen.

Die Schreie , die sie vorher gehört hatten, wurden nun stärker und fast ohrenbetäubend. Der Tunnel führte um einen Winkel und sackte nach unten ab, so daß Tanis, Flint und Raistlin vorschnellten. Die Strömung legte noch mehr an Tempo zu, und sie wurden hin und hergeworfen.

Treibende Körper – manche Oger, manche zu aufgeschwemmt, um zu bestimmen, was da kam – stießen bei der schrecklichen Fahrt gegen sie.

Die entsetzlichen Schreie wurden zu Getöse, als der Tunnel um eine scharfe Ecke bog. Die Strömung ließ Flint gegen eine Steinwand prallen. Der Zwerg schrie auf vor Schmerz und umklammerte sein Bein. Raistlin gelang es, die Hand auszustrecken und ihn am Kragen zu packen.

Die drei wurden nach unten gewirbelt, wobei sie an einem gräßlich verunstalteten Wesen vorbeikamen, das sich an den Sims klammerte. Einstmals konnte es ein Mensch gewesen sein. Jetzt war es einer der Untoten. Eine lange Zunge zuckte nach ihnen und fuhr über Zähne, die scharf und unnatürlich verlängert waren. Die Nägel an den Händen waren zu rasiermesserscharfen Klauen geworden. Mit dem einen, gesprenkelten, vertrockneten Arm klammerte sich das Wesen an den Rand, mit dem anderen reckte es sich nach ihnen und machte mit der Klauenfaust eine ebenso drohende wie mitleiderregende Gebärde.

Tanis hob den Arm. Es gelang ihm, das Wesen abzuwehren, indem er den ausgestreckten Arm des Untoten beiseite stieß. Der öffnete seinen schmutzigen Mund und schrie auf die Gefährten ein, als diese an ihn vorbeischossen, ohne daß er sie erwischte.

Würgend vor Gestank und vor Schlamm wurden sie von der schnellen Strömung wie über Stromschnellen den dunklen, modrigen Tunnel herabgerissen. Nach einer scheinbaren Ewigkeit sausten Tanis, Flint und Raistlin schließlich in überraschend helles Mondlicht, das eine flache Bucht erhellte, die von Steinen, Schmutz und Müll gesäumt war.

Tanis half Raistlin auf die Beine. Arm in Arm taumelten sie an den Strand der Bucht hinauf, bis sie eine geschützte Stelle abseits der Kanalmündung erreichten. Flint war nirgends zu sehen. Nach einigen Minuten begann Tanis, sich zu sorgen, was aus Flint geworden war. Er machte sich auf den Rückweg und fand den alten Zwerg triefnaß, schlammbespritzt, wütend und mit wutverzerrtem Gesicht auf einem Stein sitzend vor.

»Was ist denn?« fragte Tanis erschöpft.

»Mein Bein«, keuchte Flint. »Ich kann es nicht belasten. Ich glaube, es ist gebrochen.«

Tanis untersuchte ihn sofort. Richtig, das rechte Bein war gebrochen. Es war bereits angeschwollen und wurde langsam blaurot.

Tanis warf sich den Zwerg, der sich ununterbrochen beklagte, über die Schultern und trug ihn aus der Bucht, um ihn sanft neben Raistlin zu setzen.

Obwohl der junge Magier sichtlich erschöpft war – sein Gesicht war verschmiert und von kleinen Schnitten übersät –, fand er in der Nähe einen abgebrochenen Ast, riß Streifen von seiner Robe ab und gab sich große Mühe, eine feste Schiene an Flints Bein anzulegen.

»Mein übliches Pech«, murrte Flint, der wimmerte, als Raistlin die Bandage festband.

»Wir hätten dich dem Lacedon überlassen sollen«, sagte der junge Magier mit ungewöhnlichem, trockenen Humor.

»Dem was?« fragte der Zwerg.

»Dem Ghul da drin«, sagte Tanis. Dreckbeschmiert lag er im Sand, doch er war viel zu erschöpft, um sich um sein Äußeres zu kümmern. »Kirsig hatte recht mit den Untoten im Tunnel.«

»Natürlich hätten sie dich tot lieber gemocht. Sie leben von Leichen, weißt du«, sagte Raistlin trocken, der mit der Schiene fertig war. Ohne Umschweife rollte er sich an einem Felsen zusammen und war im Nu eingeschlafen.

Flint grummelte etwas Unverständliches.

Ihre kleine Bucht wurde von einer Felsnase abgeschirmt. Dahinter erstreckte sich bis zum Horizont das dunkle, feindselige Blutmeer. Das Licht beider Monde, Lunitaris und Solinaris, betupfte das schwarze Wasser mit Silberflecken. Sie konnten nichts anderes hören als das ewige Rauschen und Grummeln der Brandung.

Stundenlang warteten Tanis und Flint zitternd auf Kirsig. Irgendwann fand Tanis, daß Flint lange nichts gesagt hatte. Als er hinschaute, erkannte er, daß der Zwerg, der mit seinen Kräften am Ende war, ebenfalls eingeschlafen war. Er lehnte an einem Felsen und streckte das gebrochene Bein lang vor sich aus. Seufzend richtete sich Tanis auf die Nachtwache ein.Etwa eine Stunde vor Morgendämmerung kam ein kleines Boot in Sicht, das sich seinen Weg durch die Bucht suchte. Auf einer der vorderen Bänke saß Kirsig, doch die Ruder betätigte jemand anderes. Tanis weckte Flint und Raistlin.

Als das Boot bei ihnen landete, sprang Kirsig heraus. Der Ruderer, ein großer, gut proportionierter, schwarzhäutiger Mann mit spiegelglatter Glatze, folgte ihr. Er trug nichts außer einem dicken Lendenschurz und hochgeschnürten Sandalen. Eine schöne Knochenkette hing um seinen muskulösen Hals, und ein kleines juwelenbesetztes Messer steckte in einer Schlaufe seines Gürtels.

»Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat«, erklärte Kirsig hastig. »Ich mußte in die Stadt und Nugeter holen. Dann mußte ich meine Sachen packen…« Plötzlich hielt sie inne und riß die Augen auf. »Hach, was ist denn mit dem hübschen Zwerg passiert?«

Sie stürzte zu Flint, der an dem Felsen sitzen geblieben war. Dort kniete sie sich hin und untersuchte sorgfältig sein Bein. Der Zwerg runzelte die Stirn.

Der, den sie Nugeter genannt hatte, stand mit den Händen in den Hüften da und grinste Tanis und Raistlin an, während er sie prüfend ansah.

»Kirsig…«, setzte Tanis an.

»Was soll das heißen, du mußtest deine Sachen packen?« fragte Raistlin Kirsig direkt.

Die Halbogerin drehte sich zu Raistlin um. »Na«, raunzte sie, »ich mußte eine Ogerwache töten. Ich kann doch wohl kaum hierbleiben, oder? Also komme ich mit!«

»Aber – aber – «, stammelte Raistlin.

»Eine Frau auf so einer Reise?« zweifelte Tanis.

»Wenn ihr mich fragt – «, setzte Flint an.

Nugeter brachte sie zum Schweigen, indem er in schallendes Gelächter ausbrach.

Nach langer Pause fragte Tanis Kirsig: »Was findet er denn so komisch?«

»Was ich komisch finde, Halbelf«, sagte Nugeter, der die drei verächtlich ansah, »ist, daß über die Hälfte meiner Mannschaft aus Frauen besteht. Und die erledigen die Arbeit genausogut wie die Männer.«

»Ich kenne Nugeter seit Jahren«, sagte Kirsig eilig. »Er hat immer bei meinem Vater Proviant gekauft, den er unterwegs brauchte. Er ist einer der besten Seefahrer dieser Gegend und ist bereit, euch übers Blutmeer zu fahren.«

»Nicht umsonst«, erinnerte Nugeter, der der Halbogerin mit dem Finger drohte.

»Außerdem«, fügte Kirsig eifrig hinzu, »werdet ihr Hilfe für diesen Zwerg brauchen… die Hilfe eines Heilers, meine ich. Ich habe über die Jahre einiges mitbekommen. Damit kann ich zwar nicht gerade die Pest heilen, aber doch den Schmerz lindern und die Heilung des Bruchs beschleunigen.«