»Hier, alter Fischer«, grollte Vigila, der in eine Tasche griff und Lazaril eine Handvoll Münzen hinwarf. »Ich nehme dir diese menschlichen Wracks ab. Vielleicht kann ich sie aufpäppeln. Vielleicht auch nicht.« Der Hafenmeister drehte sich um und winkte nach einem Karren.
Ein anderer Minotaurus weit unten am Pier knallte mit der Peitsche. Zwei Menschensklaven begannen, einen großen Karren mit Holzrädern zu dem Hafenmeister zu ziehen.
Lazaril sammelte eifrig seine Münzen auf, von denen einige zu seinem Unglück in das brackige Hafenwasser gefallen waren und auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren.
Während Lazaril herumsuchte, spannte Vigila seine Muskeln an, beugte sich vor und hob Caramon und Sturm aus dem Boot, indem er jedem einen kräftigen Arm um die Brust legte. Da sie zu verwirrt waren, um zu zappeln, bekamen die beiden nur mit, wie sie durch die Luft flogen, als Vigila sie hochhob und auf den Karren warf. Sie landeten quer übereinander.
Eine Peitsche knallte, die Menschensklaven drehten um und zogen den Karren vom Pier.
»He! Das sind alles Kupferstücke!« beschwerte sich Lazaril, als der alte Fischer die Münzen zählte, die er aufgesammelt hatte, und bemerkte, daß er betrogen worden war. »Das ist der Sklavenpreis, nicht der Gladiatorenpreis!«
Der alte Fischer stieg eine Sprosse zum Pier hoch. Das war sein zweiter Fehler. Der erste war gewesen, daß er seine Stimme zornig erhoben hatte.
Vigila drehte sich zu ihm um. Seine Augen quollen vor Wut hervor.
Lazaril erstarrte. »Aber das ist nicht der Gladiatorenpreis«, jammerte der Fischer leise. Er wollte zurück in sein Boot. Er wollte hinaus in den Ozean und Aale fangen wie jeden Tag. Doch sein Fuß baumelte nutzlos in der Luft, als er die Leitersprosse verfehlte.
Vigila senkte den Kopf und stürmte auf den Fischer los, um den alten Mann auf seinen spitzen Hörnern aufzuspießen. Als er den Kopf wieder hob, bellte der Hafenmeister wütend und drehte sich dann mehrmals herum, ehe er den Kopf schließlich wieder senkte und den Körper abschüttelte, so daß er weit hinaus aufs Wasser flog.
Lazaril zuckte und schlug um sich, als er durch die Luft segelte. Dann landete er im Wasser, wo er sich nicht mehr rührte. Möwen schossen hinunter, um am Körper des alten Fischers zu picken.
Der Gassenjunge, der hinter einem Faß Schutz gesucht hatte, kroch vor, um ein paar der Kupfermünzen aufzusammeln, die der Fischer hatte fallen lassen. Er warf Lazarus Leiche keinen Blick mehr zu. Solche Gewaltausbrüche waren im Hafen von Atossa nichts Ungewöhnliches. Vor Vigila mußte man sich hüten. Diejenigen, die es überhaupt mitbekamen, hielten nur kurz inne und fuhren dann mit Kauf und Verkauf, Streit und Kampf fort, als wäre nichts geschehen. Keiner beachtete den Vorfall weiter.
Das wäre auch unklug gewesen.Zur gleichen Zeit, zu der Tolpan in seiner Zelle in der Minotaurenhauptstadt Lacynos gefoltert wurde, sperrte man Sturm Feuerklinge und Caramon Majere keine dreißig Meilen weiter in der kleinen Stadt Atossa ins Gefängnis.
Da sie erleichtert waren, dem sicheren Tod im Blutmeer entgangen zu sein, verzichteten Sturm und Caramon auf Widerstand. Um ehrlich zu sein, hatten sie auch weder die Kraft noch den wirklichen Willen dazu.
Nachdem man sie in eine schmutzige Zelle – eine von Dutzenden in dem unterirdischen Kerker von Atossa – geworfen hatte, sanken die beiden Freunde auf dem Steinboden zusammen. Sie verschliefen den Rest des Tages und die sich anschließende Nacht, und als sie erwachten, aßen sie voller Gier. Minotaurenwachen gaben Schüsseln mit Fleisch und Wasser aus riesigen Eimern aus, die sie von Zelle zu Zelle schleppten. Trotz des unappetitlichen Geruchs und der Farbe des Fleisches beklagten sich Caramon und Sturm nicht. Noch nie waren sie so hungrig gewesen.
Am zweiten Abend waren sie soweit, daß sie sich aufsetzen und miteinander reden konnten. Obwohl ihnen die Kleider in Fetzen von ihren dreckigen Körpern hingen, die überall von dem zeugten, was sie durchgemacht hatten, konnten Caramon und Sturm auf die Kraftreserven der Jugend zurückgreifen. Sie erholten sich erstaunlich schnell.
»Nach dem, was ich mitbekommen konnte, und aufgrund des Aussehens unserer Wärter, glaube ich, daß wir auf der Insel Mithas sind«, sagte Sturm zu Caramon, als die beiden sich an jenem Abend mit leiser Stimme unterhielten. »Irgendwie sind wir mit der Venora über Tausende von Meilen von der Straße von Schallsee an den äußeren Rand des Blutmeers getrieben. Und der, der diese unglaubliche Tat vollbracht hat, hat aus irgendeinem Grund Tolpan gefangengenommen und uns über Bord geworfen, damit wir umkommen.« Sturm schwieg, denn er dachte an die Tage, in denen sie durch das aufgewühlte, tückische Blutmeer getrieben waren. »Was uns auch hier erwarten mag, wir können von Glück sagen, daß wir noch am Leben sind. Das Blutmeer gibt nicht viele Schiffbrüchige wieder her.«
»Und was meinst du«, fragte Caramon langsam, »was aus Tolpan geworden ist?«
Sturm schüttelte traurig den Kopf.
An ihrem dritten Morgen in der Zelle kamen zwei viehisch aussehende Minotauren und starrten sie an. Einer von ihnen trug Abzeichen, die offiziell wirkten, und hörte zu, wie der andere leise grollend sprach, der dabei abwechselnd auf Caramon und Sturm deutete.
»Sieh nur, wie schnell sie sich von ihren Wunden erholt haben. Sie sind sehr starke Kämpfer. Wenn wir ihnen Zeit lassen, zu gesunden und wieder zu Kräften zu kommen, können sie uns bei den Spielen unterhalten. Wenn sie nicht zu Gladiatoren taugen, können wir sie immer noch in die Sklavengruben werfen.«
Caramon starrte sie teilnahmslos an. Er fühlte sich schwach und zerschlagen und konnte sich sowieso nicht zusammenreimen, wovon die Rede war. Was machte es schon, was aus ihm werden würde, Minotaurensklave oder ein zum Untergang verurteilter Gladiator, hier, Tausende von Meilen von Solace entfernt?
Sturm stand auf und steckte sein Gesicht zwischen die Gitterstäbe. Er funkelte die beiden Minotauren an. »Gern würde ich auf der Stelle gegen einen von euch antreten«, sagte der junge Solamnier zornig, »wenn ihr mich auch nur einen Moment hier rauslassen würdet! Ich werde nie ein Sklave, und was eure Gladiatorenkämpfe angeht – pah!« Er spuckte in ihre Richtung.
Einen Augenblick später hatte der Minotaurus mit den Insignien auch schon ausgeholt und Sturm mitten ins Gesicht geschlagen, bevor der Solamnier sich sicher hinter die Stäbe zurückziehen konnte. Mit blutender Lippe taumelte er zurück.
»Der da ist ziemlich dumm«, polterte der hochrangige Minotaurus, »aber wir werden ihm seine Dummheit schon austreiben.« Mit seiner riesigen, behaarten Hand rieb er sich das Kinn und betrachtete dabei die zwei Gefährten.
»Laß den da«, der Minotaurus zeigte auf Caramon, »beim Füttern und Eimerleeren helfen. Als Belohnung«, sagte er höhnisch grinsend, »weil er seinen Mund gehalten hat. Im Gegensatz zu seinem Freund soll er Gelegenheit haben, sich zu strecken und seine Muskeln aufzubauen, und wenn die Zeit kommt, daß er um sein Leben kämpfen muß, lebt er vielleicht etwas länger.«Am nächsten Morgen wurden die Gefährten unsanft von den Minotaurenwachen geweckt. Eine Wache hielt Sturm ein Schwert an die Kehle, während die andere Caramon aus der Zelle heraus winkte. Man reichte Caramon zwei riesige Eimer mit Fleisch und Wasser und wies ihn an, jedem der Gefangenen in den Zellen eine Portion davon zu geben. Die dunklen, feuchten Gänge gingen in alle vier Himmelsrichtungen auseinander.
Als Caramon unter dem Gewicht der Eimer schwankte, merkte er, wie sehr ihn sein Abenteuer im Meer geschwächt hatte. Die Minotaurenwachen lachten über Caramon, als er sich abmühte, die Eimer anzuheben und dann den vorgegebenen Weg entlangstolperte. Eine der Wachen kehrte an ihren Posten zurück, während die andere mit gezücktem Schwert hinter Caramon her trottete, um sicherzugehen, daß der lächerliche Mensch das tat, was man ihm befohlen hatte.
Drei Stunden lang wanderte Caramon durch die Kellergänge und füllte die Tröge, die vor den Gefängniszellen standen. Von innen konnten die Gefangenen ihre Hände ausstrecken und Nahrung und Wasser schöpfen.