Am nächsten Tag ging es dem gebrochenen Mann kaum besser.
Am vierten Tag hatte das ovale Gesicht aufgeblickt und die Lippen bewegt, doch die Worte, die er sagte, verstand Caramon nicht. Der Mann redete in einer fremden Sprache. Und nachdem er wie im Fieber gesprochen hatte, fiel sein Kopf schlaff herunter.
Caramon und Sturm unterhielten sich in jener Nacht wieder über den gebrochenen Mann. Die meisten anderen Gefangenen waren offensichtlich Abschaum, die üblichen Gefängnisinsassen in jedem beliebigen Kerker. Dieser eine jedoch erweckte in Caramon Mitleid und Neugier. Doch die beiden Gefährten kamen zu keinem Ergebnis, wer der gebrochene Mann sein könnte, oder wie er von ihrem Kommen erfahren hatte.
Am fünften Tag war der Angekettete kräftiger und etwas aufgelebt. Er schien auf Caramon zu warten und winkte ihn näher heran. Der Zwilling blickte über die Schulter zu der Minotaurenwache, die weit hinten im Korridor an die Wand gelehnt auf dem Boden saß. Der Minotaurus wurde nachlässiger. Schließlich war Caramon unbewaffnet und hatte keine Chance zu fliehen.
»Es ist alles bereit«, flüsterte der gebrochene Mann, der seine ganze Kraft zusammennahm.
»Was?« fragte Caramon verwirrt. Überdeutlich schöpfte er langsam Fleisch und Wasser heraus, falls der Wächter gerade hersah. Der Krieger rückte näher, bis er sein Gesicht zwischen die Stäbe stecken konnte. »Woher weißt du von mir und Sturm? Und was ist bereit?«
»Ich habe mit meinen Brüdern gesprochen. Sie können dich hier rausholen.«
Caramons Herz schlug schneller. »Warum mich? Warum nicht dich?«
»Ich sitze fest«, sagte der gebrochene Mann jämmerlich. »Meine Zelle wird nur aufgesperrt, um mich zu verhören und zu schlagen – und hin und wieder zum Essen.« Er nickte zum Trog hin. »Aber mein Volk weiß von dir und deinem Freund. Man hat mir von eurer Ankunft erzählt. Sie werden dir helfen.«
»Warum ich?« wiederholte Caramon.
»Weil du kein Minotaurus bist«, sagte der gebrochene Mann. »Weil du gesandt bist. Aber vor allem«, er brachte ein mattes Lächeln zustande, »weil es machbar ist.«
Als Caramon wieder einen Blick über die Schulter wagte, sah er, daß dem Wächter das Kinn auf die Brust gesackt war. Er döste ein. Dadurch gewann Caramon kostbare, zusätzliche Zeit. »Wie verständigst du dich mit deinem Volk?« fragte der Zwilling. Er mußte vorsichtig sein, doch er gestand sich ein, daß es ihn zu diesem mutigen Gefangenen hinzog.
Unter Schmerzen erhob der gebrochene Mann eine Hand, so weit seine Fesseln es erlaubten, und zeigte auf seinen Kopf. »Telepathie.«
Caramon sah auf. »Telepathie?« wiederholte er zweifelnd.
Der gebrochene Mann nickte. Trotz seiner Zweifel wollte Caramon ihm gern glauben.
»Was ist mit meinem Freund? Was wird aus Sturm?«
Ein langer Moment des Schweigens folgte. »Du wirst ihn zurücklassen müssen«, sagte der gebrochene Mann ernst.
»Das kann ich nicht tun!«
»Du mußt ihn hierlassen.«
»Wann?«
»Morgen.«
Ein Rascheln hinter ihm, verriet Caramon, daß die Wache sich aufgerappelt hatte und in seine Richtung kam.
»He!« hörte er das mittlerweile vertraute Knurren. »Was redet ihr beide da?«
Caramon ergriff die Eimer und fuhr herum, so daß er dem Minotaurus unmittelbar gegenüberstand. »Genau wie die anderen«, sagte er, wie er hoffte, mit einer Spur Ärger in der Stimme. »Beklagt sich über das Essen.«
Argwöhnisch blickte die Minotaurenwache Caramon an und musterte dann kurz den gebrochenen Mann. Zufriedengestellt versetzte der Minotaurus Caramon einen Schubs zum Gang hin. Der Krieger stolperte, fing sich aber und trottete ohne einen Blick zurück den Gang entlang. Hinter sich konnte er den Minotaurus gehen hören.
»Er mag das Essen also nicht, ja?« grunzte der Minotaurus. »Tja, wir lassen ihn nur zur Belohnung essen, und irgendwie kommt es mir so vor, daß er heute den ganzen Tag angekettet bleibt!«Später am Abend sprachen Caramon und Sturm über das Geschehene. Keiner von beiden verstand es, und keiner hielt es für möglich, entkommen zu können.
»Jedenfalls«, sagte Caramon stur, »gehe ich nicht ohne dich.«
»Du hast keine Wahl«, gab Sturm eindringlich zurück. »Wir haben keine Wahl. Wenn einer von uns frei ist, kann der andere hoffen. Ich würde gehen, wenn ich du wäre.«
»Wirklich?« fragte Caramon skeptisch.
»Ja«, log Sturm.
Caramon dachte lange angestrengt nach. »Wenn ich auf irgendeine Weise fliehen kann, dann schwöre ich, daß ich zurückkomme und dich hole.«
Sturm gab seinem Freund einen warmen Händedruck.Am nächsten Tag kamen die Minotaurenwachen wie gewöhnlich zur Essenszeit, um Caramon herauszulassen. Der Majerezwilling hievte die beiden schweren Eimer mit Fleisch und Wasser hoch und begann mit seinem üblichen Rundgang. Er schleppte die Eimer durch die muffigen Gänge des Gefängnisblocks. Er gab gut acht, alles wie gewöhnlich zu machen, damit die Minotaurenwache, die ihn aus einiger Entfernung halbherzig beobachtete, keinen Verdacht schöpfte. Caramon hatte keine Ahnung, womit er rechnen mußte, doch er war entschlossen, für jede Möglichkeit offen zu bleiben.
Nachdem Caramon zwei Stunden lang den Gefangenen Essen gebracht hatte, begann die Wache, weiter zurückzubleiben, denn sie vertraute darauf, daß Caramon seine Pflichten ordentlich erfüllte.
Als Caramon schließlich am hinteren Ende des Gangs ankam, wo der gebrochene Mann eingesperrt war, war der Minotaurus weit zurück. Er hatte sich auf den Boden gehockt, wo er zum Zeitvertreib nach Ungeziefer stach, das ihm in die Quere kam.
Caramon drehte sich der Magen um, als er sah, daß der gebrochene Mann wieder gefoltert und geschlagen worden war. Aus seinen Wunden strömte Blut. Es sah aus, als hätte man ihm den Rücken aufgerissen. Sein Gesicht war von schwarzen und blauroten Blutergüssen übersät.
Der Krieger setzte die beiden Eimer ab und lief hin. Er steckte das Gesicht zwischen die Stäbe.
Der Angekettete hob leicht das Kinn, doch seine Augen waren zugeschwollen. Sein Blick wanderte in Caramons Richtung.
Unten im Gang stach die Minotaurenwache scheinbar selbstvergessen nach einem weiteren Tier am Boden.
»Was – «, setzte Caramon mit viel zu schrillem Flüstern an, das er schnell unterdrücken mußte, ehe ein Wutschrei daraus wurde.
»Nur das Übliche, mein Freund«, keuchte der gebrochene Mann mit brüchiger, schwacher Stimme.
»Warum quälen sie dich so?«
»Ich bin keiner von ihnen. Das ist genug.«
Mitleidig und beschämt senkte Caramon den Kopf. Dadurch fiel sein Blick erstmals auf die Füße des Mannes. Seine langen Beine endeten in vogelartigen Klauen. Der Majerezwilling sperrte erstaunt den Mund auf.
»Keine Zeit für lange Erklärungen«, keuchte der gebrochene Mann. »Schnell! Stell rechts von der Tür die Eimer übereinander. Nein… da! Richtig. Sie müssen fest stehen. Jetzt steig oben drauf!«
Caramon schaute zweifelnd drein.
»Schnell!«
Ohne zu wissen warum, tat Caramon, was ihm gesagt wurde. Er kletterte auf die übereinanderstehenden Eimer. Ein Blick über die Schulter verriet ihm, daß die Wache immer noch durch ihr kleines Spielchen mit dem Ungeziefer abgelenkt war.
»Was wird aus dir?« fragte Caramon zögernd.
»Wenn ich Glück habe, darf ich endlich sterben.«
Dann hörte Caramon, wie sich Stein über Stein schob. Er blickte nach oben und sah, daß eine dicke Platte aus der Decke über seinem Kopf beiseite geschoben war.
»Streck die Hände aus!«
Während er es tat, warf Caramon einen letzten Blick auf seinen Retter. Das Gesicht des gebrochenen Mannes glänzte einen Augenblick triumphierend auf, ehe sein Kinn wieder auf die Brust sackte.
Rauhe, starke Hände zogen Caramon hinauf.Die schwere Platte rutschte langsam wieder an ihren Platz.
Caramon sah nichts als Finsternis und eine kaum erkennbare, sich bewegende Gestalt. Er wurde in einen niedrigen Tunnel gedrängt. Halb kriechend, halb krabbelnd versuchte der kräftige Majerezwilling rasch vorwärtszukommen. Der – oder das – vor ihm drehte sich alle paar Schritte um und kreischte ihm in einer nichtmenschlichen Sprache etwas zu. Es war ein hoher, befehlender Ton, der ihn vorwärts drängte, obwohl Caramon keine Ahnung hatte, was er bedeutete.