Neugierig fragte ich sie, was denn aus dem Kapitän geworden sei. Warum segelte sie jetzt mit Kapitän Nugeter?
»Pah«, entgegnete Yuril. »Mein alter Kapitän ist an Land umgekommen, in Blutsicht. An Bord seines Schiffes war er genial, in anderer Hinsicht ein Einfaltspinsel. Da besiegt einer das Blutmeer, nur um sich bei einer gewöhnlichen Kneipenschlägerei erstechen zu lassen!« Sie hielt inne und straffte die Schultern, während sie ihrerseits jeden von uns anstarrte. »Ich segele schon zwei Jahre mit Kapitän Nugeter. Er hat den nötigen Schneid und das Können. Damit ist es machbar.«
Sie stieß den Finger auf die Karte, die auf dem Tisch lag, um zu zeigen, wo das Schiff in den Mahlstrom eintreten würde und wo wir – wenn das Glück uns hold war – wieder ausgespuckt werden würden.
Yuril sagte, der äußere Ring des Blutmeers läge bei günstigem Wind und ohne Zwischenfälle ungefähr drei Tage entfernt.
»Wie lange werden wir in diesem… Mahlstrom sein?« fragte Kirsig etwas kläglich.
»Zwei Tage und zwei Nächte«, erwiderte Yuril. »Wenn wir auf Kurs bleiben.«
Raistlin schien über der Karte zu grübeln. Ich wartete auf seine Entscheidung.
Flint flüsterte mir kummervoll zu: »Meinst du nicht, wir sollten die langsamere und sichere Methode in Betracht ziehen? Wir haben doch wirklich keinen Beweis, daß Sturm, Caramon und Tolpan unmittelbar in Gefahr sind.«
Raistlin warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Flint sah zu Boden und zupfte an seinem Bart.
Ich wußte, daß mein alter Freund nicht weniger um die anderen besorgt war als Raistlin und ich. Ich klopfte ihm auf den Rücken und flüsterte: »Dadurch kommen wir schneller von diesem Schiff runter.« Dann sprach ich mich für den Plan aus.
Raistlin nickte zustimmend, und Kirsig überraschte mich mit einer Umarmung. Ich wagte keinen erneuten Blick auf Flint, denn ich wußte, daß der Zwerg, der sich seiner vorherigen Bemerkung schämte und wütend war, auf einer Seereise festzusitzen – noch dazu mit einem gebrochenen Bein –, mich finster anfunkeln würde.
Bei Einbruch der Nacht wurde die Castor von starken Windstößen gebeutelt. Finsternis legte sich über das Wasser. Die See war kalt und schwarz und aufgewühlt. Keine Sterne schmückten den Nachthimmel. – Wir sind drei Tage vom Sog in den Mahlstrom entfernt, daher dürfte es meiner Phantasie entspringen, wenn ich schon jetzt den beständigen, stärker werdenden Zug verspüre.
Häufige eigenartige Flauten wechseln mit starkem Wind, Hagel und Regen. Wir haben in diesem Teil des Meeres keine anderen Schiffe gesichtet. Selbst bei Flaute wird unser Schiff in nördliche Richtung gezogen.
Habe ich die Castor beschrieben?
Es ist ein Zweimaster mit zwei Segeln und Ruderbänken, die nur bei Windstille bemannt sind. Zur Mannschaft gehören ungefähr zwei Dutzend Seeleute, mindestens zur Hälfte Frauen. Alle sind Menschen und betrachten Flint und besonders Kirsig mit einigem Erstaunen, obwohl sie auf ihren Reisen schon Ogern begegnet sein müssen.
Ein paar aus der Mannschaft haben schwarze Haut, da sie von entfernten Inseln im Norden stammen, und ich beobachte sie mit vergleichbarer Neugierde. Besonders die Frauen, denn sie sind schön anzusehen, dabei aber gut trainiert und offensichtlich seefest. Sie tragen Lederkleider und Sandalen und können genausogut die Masten erklettern und die Segel einholen wie jeder Matrose.
Meistens reden sie in ihrer eigenen, rauh klingenden Mundart, obwohl fast alle von ihnen auch die Umgangssprache sprechen.
Keiner aus der Mannschaft trägt Waffen, und bisher hatten wir noch keinen Grund, welche zu benutzen. Achtern gibt es einen kleinen Waffenschrank, in dem Schwerter, Armbrüste, Bolzen, Öl, Rüstungen und der gesamte Brandyvorrat des Schiffes aufbewahrt werden.
Yuril bewegt sich ganz selbstverständlich in der Mannschaft. Wenn sie ein Kommando brüllt, rennen die anderen los, um es auszuführen. Sie hat den Bau von vier zusätzlichen Seitenrudern beaufsichtigt, die einfach gemacht sind und wie Riesenflossen aussehen. Es war Kapitän Nugeters Idee, sie gleich unter der Wasseroberfläche beidseitig an den Enden des Schiffs anzubringen. Wenn wir den trügerischen Randbezirk des Blutmeers befahren, sollen sie die Castor stabilisieren und, wie wir hoffen, durch die schlimmsten Böen führen, die ganz sicher vom Mahlstrom her kommen werden.
Mit den Extrarudern kommt ein ausgeklügeltes System aus Seilen und Winden an Deck, die an Holzblöcken festgemacht sind, welche wiederum auf das Deck genagelt wurden. Zwei Matrosen haben sich freiwillig gemeldet, an der Seite des Schiffes baumelnd den Kopf unter die krachenden Wellen zu stecken, damit die zusätzlichen Ruder sicher befestigt sind. Am Abend erhielten sie Sonderrationen, und ihre Kameraden ließen sie hochleben.
Kapitän Nugeter steht mit hoch erhobenem Kopf über allem. Er sagt sehr wenig, und es ist fast, als ob Yuril das Kommando hätte. Aber er schilt sie, wenn sie langsam ist, und lacht laut, wenn sie ihm als Antwort eine Beleidigung an den Kopf wirft.
Abgesehen vom Hauptdeck und der Kapitänskabine hat die Castor eine kleine Kombüse mit Trinkwasser und Vorräten, den Waffenschrank, das untere Deck mit den Ruderbänken, die Mannschaftsunterkünfte (welche die Mannschaft abwechselnd nutzt) und einen Frachtraum. Soweit ich weiß, haben wir nichts dabei außer Nahrungsmittel, Reparaturmaterial und die bereits erwähnte Waffensammlung.
Neben dem Frachtraum ist eine Gefängniszelle, die seit unserem Aufbruch in Ogerstadt leer steht, und eine kleine Kabine für den Steuermann, in der Yuril schläft – falls sie einmal schläft. Sie scheint rund um die Uhr an Deck zu sein. Wenn der Kapitän selber schläft, ist sie Auge und Ohr für ihn.
Zum Glück gibt es vier kleine Kabinen für Passagiere, je eine für Raistlin, Flint, Kirsig und mich. Sie sind schlicht eingerichtet, jede mit Hängematte, Bank, Fenstertruhe und Tisch.
Raistlin verbringt freiwillig viel Zeit allein in seiner Kabine. Ich vermute, der junge Majere sammelt seine Kräfte für die Strapazen, die vor uns liegen. Die wenigen Male, die ich ihn an Deck sah, wirkte er nachdenklich. Sicher sorgt er sich um seinen Bruder.
Flint hat ebenfalls den größten Teil der ersten drei Tage in seiner Kabine verbracht, allerdings unfreiwillig, denn er ist durch sein verletztes Bein etwas lahmgelegt. Ich bin nicht sicher, ob er bei seiner Abneigung gegen Wassermassen unglücklich ist, so festzusitzen; bei Flint ist das schwer zu sagen. Selbst wenn er unendlich glücklich ist, murrt er ja unentwegt.
Kirsig hat Flints Bein gut behandelt. Die Schwellung ist zurückgegangen und die Verfärbung verblaßt. Es hat sich herausgestellt, daß sie ein paar nützliche Kenntnisse im Heilen besitzt. Ich glaube, bis wir den äußeren Ring des Mahlstroms erreicht haben, wird mein Freund wieder laufen können.
Kirsig lehnt es ab, von Flints Seite zu weichen. Sie ist völlig vernarrt in ihn. Sie streichelt seine Haare und seinen Bart und nennt ihn ihren »hübschen Zwerg«. Je nachdrücklicher er sie loszuwerden versucht, desto fester klammert sie sich an ihn.
Die anderen an Bord stehen der Halbogerin nicht so ablehnend gegenüber. Gestern (am zweiten Tag) ist einer der Seeleute von einer hohen Rahe gefallen und hat sich eine häßliche Wunde zugezogen. Er blutete heftig aus der Seite. Kirsig wurde an Deck gerufen, und sie hat die Wunde mit nichts als einer Nähnadel sauber geschlossen. Bis dahin hatte Yuril die Halbogerin eher mit amüsierter Gleichgültigkeit betrachtet. Jetzt fällt mir auf, daß sie Kirsig – im Gegensatz zu anderen – morgens begrüßt und sich ihr respektvoll nähert.
Das Wasser ist so unheilschwanger wie der Himmel. Hier, im äußeren Ring des Blutmeers, ist seine Farbe ein dunkles Blutrot. Die Wellen rollen in langen Wogen.