Da er eine warme Begrüßung durch seine Freunde erwartet hatte, war Tolpan enttäuscht, als er niemanden entdeckte. Keine Spur von Sturm oder Caramon oder wenigstens Kapitän Murloch. Mit typischem Kendergeschick gelang es Tolpan, auf dem rollenden Deck sein Gleichgewicht zu bewahren, während er sich umsah. Offenbar war der Hauptmast gebrochen und in die See gestürzt. Die Segel, die noch am Maststumpf hingen, peitschten wild herum. Die Venora drehte sich schwindelerregend schnell. Wo waren Sturm und Caramon, ganz zu schweigen von allen anderen?
Weil er hinter sich eine Bewegung bemerkte, wirbelte Tolpan herum und stand Kapitän Murloch gegenüber… das alte Walroßgesicht. Der Kapitän grinste den Kender an, wodurch seine gelben Zähne über den Unterkiefer ragten. Urgh, dachte Tolpan. Trotz der bedrängten Lage seines Schiffes hatte der Kapitän sich seine gute Laune erhalten können.
»Hei, Kapitän Murloch«, schrie Tolpan gegen den Wind und den Regen an, der ihm ins Gesicht peitschte. »Ganz schön stürmisch hier. Ich wette, das Schiff hat wirklich zu kämpfen. Ich bleibe hier oben und helfe. Ich hab’ so etwas schon auf vielen Schiffen mitgemacht… nun ja, eigentlich, nicht allzu viele. Sieben bis neun, neben diesem hier. Aber Sturm und Caramon können auch gut mithelfen. Wißt Ihr, wo sie sind? Ein Glück, daß unser Freund Flint nicht mit ist, denn…«
Tolpan kam Kapitän Murloch ein paar Schritte näher, damit dieser ihn auch ganz sicher hören konnte. Irgendwie schien das grinsende Gesicht des Kapitäns gar nicht zu reagieren. Verwirrt und abgelenkt wie Tolpan war, entging ihm bis zuletzt, daß der Kapitän den Arm hochschwang und mit der Keule zuschlug.
»Verdammter Kender! Die schwatzen einem noch mitten in einem Hurrikan die Ohren voll«, murmelte Kapitän Murloch. Immerhin hatte die Keule des Kapitäns dem Kendergeschwätz ein Ende gesetzt. Tolpan lag bewußtlos zu Murlochs Füßen. Der Kapitän packte ihn am Haarknoten und zerrte ihn zu dem, was vom Hauptmast noch geblieben war. Unter den zerfetzten Segeln lagen die bewußtlosen Körper von Caramon und Sturm.
Kapitän Murloch zog die schlaffen Körper näher an den Mast und begann, sie genauso anzubinden, wie man es ihm gesagt hatte. Er arbeitete, so schnell es in diesem furchtbaren Sturm möglich war. Als er schließlich fertig war, blieb er einen Augenblick stehen, um seine Arbeit zu begutachten. Schwere, schwarze Wolken ballten sich oben am Himmel zusammen. Die Planken der Venora knirschten laut.
Kapitän Murloch hatte seinen Teil des Geschäfts erfüllt. Die großzügige Bezahlung, die er erhalten hatte, würde ihn reichlich dafür entschädigen, daß er sein Schiff verlor und sein Leben aufs Spiel setzte. Wie viele alte Seebären liebte Murloch sein Schiff und bedauerte den Verlust. Die Venora war ihm fast so lieb wie sein Leben.
»Tja, altes Mädchen, wir hatten eine gute Zeit«, murmelte der Kapitän und leckte sich dann die Lippen.
Murloch bückte sich und zog einen dicken Korkring aus einer Falltür am Mast. Er schlüpfte hinein und band ihn mit einem Seil am Bauch fest. Nach einem letzten Blick auf die drei bewußtlosen Körper und dann in das dunkle, aufgewühlte Wasser, kletterte er über die Reling und ließ sich in die rauhe See fallen.
Es war ihm gelungen, durch die hohen Wellen zu kraulen und mehrere hundert Fuß zwischen sich und das Schiff zu bringen, bis sich die zornige Wolke, die über der Venora lauerte, auf das Schiff herabsenkte. Dabei spie sie feurige Blitze und Hagel aus.
Dann begann die Wolke, sich mit schrecklichem, brausenden Getöse zu heben und die Venora mitzutragen. Aus der Ferne konnte Murloch kaum noch Bug und Heck seines Schiffes ausmachen, als die Venora sich wie immer schneller um sich selbst drehte und in den Wirbelsturm gesaugt wurde.Einen halben Tag später erspähte der verräterische Kapitän Murloch, der sich von der Strömung treiben ließ, in der Ferne die Küste von Abanasinia. Er war fast zu Hause.
Trotz seines Hungers und der Müdigkeit tröstete ihn die Aussicht, für den Rest des Lebens ein reicher Mann zu sein.
Von dem Rettungsring aus Kork getragen, der genau um seinen Leib reichte, begann Kapitän Murloch wieder zu schwimmen. Mit kräftigen Stößen bewegte er sich auf die Küstenlinie zu.
Ein merkwürdiges Geräusch lenkte seine Aufmerksamkeit nach oben. Die Sonne war so hell und heiß, daß er eine Hand an die Augen legen mußte. In der Luft schienen Punkte zu tanzen.
Plötzlich hörte Kapitän Murloch auf zu paddeln und starrte entsetzt nach oben. Was wie Punkte ausgesehen hatte, war in Wahrheit ein kegelförmiger, fliegender Insektenschwarm. Als er voller Panik hinschaute, erkannte er, daß sie über ihm flogen und sich mit ihm weiter bewegten. In diesem Moment neigte sich der Schwarm und schoß nach unten.
Es waren riesige Bienen – Hunderte, Tausende davon. Summend, tanzend, stechend. Kapitän Murloch streckte vergeblich einen Arm hoch, um sie zu verscheuchen. Der Arm war rasch mit zornigen Tieren bedeckt.
Der Schrei, der aus Kapitän Murlochs Mund drang, entsprang reiner Hilflosigkeit. Die Riesenbienen schwärmten in seinen Mund hinein, bedeckten sein Gesicht, suchten nach seinen Augen und Ohren. Sie formten einen lebenden Teppich über Kapitän Murloch, in dem sie zuckten und summten, während sie ihren tödlichen Auftrag vollbrachten.
Innerhalb von Sekunden hörte sein Herz auf zu schlagen. Die Bienen flogen zur Sonne hoch.
Das Gesicht des Kapitäns im Meer war eine rote, aufgedunsene Maske. Schwarz und aufs Fünffache ihrer normalen Größe geschwollen, hing ihm die Zunge aus dem Mund. Die Arme lagen schlaff und nutzlos im Wasser. Kapitän Jhani Murloch trieb auf die Küste zu.An einem einsamen, zerklüfteten Ort – salzverkrustetes Land, von der Sonne ausgedörrt, vom Wind ausgetrocknet, von einer ungastlichen See umgeben – beugte sich Tausende von Meilen weit fort eine breite Gestalt nach vorn, um die Zeichen aus den schimmernden Gegenständen zu lesen, die sorgsam auf dem hohen Tisch eines Felsplateaus zusammengestellt waren.
Er hatte einen halben Tag klettern müssen, um von seinem Lager im trockenen, verwüsteten Tiefland hierher zu gelangen. Dennoch nahm er diesen Aufstieg zweimal die Woche auf sich, um mit den Göttern zu sprechen – besonders mit einem von ihnen.
Die große Gestalt hob den Kopf und beobachtete, wie das Mittagslicht von dem farbigen Glas, den Prismen, den Kristallen und den silbernen Spiegelscherben zurückgeworfen wurde.
Etwas weiter entfernt standen seine drei vertrautesten und am meisten eingeweihten Adepten. Man nannte sie einfach die Hohen Drei. Der, den sie jetzt betrachteten, war einst selbst einer der Drei gewesen. Jetzt war er ihr unbestrittener Anführer. Unausweichlich würde ihm eines Tages einer von ihnen nachfolgen und die heiligen Pflichten erfüllen.
Hinter den Hohen Drei standen im Kreis zwischen geborstenen Felsen und zerklüfteten Steingebilden Dutzende niedriger Akolythen mit monströsen, verzerrten Gesichtern und brutalen, mörderischen Waffen, die in der Sonne glänzten. Ihre tierhaften Gesichter verrieten kein Gefühl; die riesigen, runden Augen starrten dumpf und wie in Trance geradeaus.
Hinter den Akolythen waren Wachen und Soldaten zu Dutzenden aufgereiht, alle ebenso loyal wie schauerlich. Sie warteten nur auf ein Zeichen ihres Anführers.
Was ihnen auch aufgetragen wurde, sie würden es tun. Sie lebten nur, um dem Nachtmeister zu dienen.
Der Nachtmeister umrundete die schimmernden Glasstücke und betrachtete dabei jedes einzelne von ihnen, weil ihn das Glimmen und Tanzen des Lichts faszinierte. Er beschattete seine dicken Brauen mit der Hand, um zur Sonne und zum vor Hitze weißen Himmel hochzusehen und sich dessen zu vergewissern, was er beobachtet und erfahren hatte.
Federn und Fell baumelten von seinem großen, gehörnten Kopf. Glöckchen klingelten bei seinen Bewegungen. In seinen riesigen Händen trug er einen langen, dünnen Weihrauchstab, der Rauch und schwindelerregend süßen Duft von sich gab. Der Nachtmeister trat von einem Teil zum anderen, um die Zeichen auszulegen.