Heute nacht, es war eine schwarze, Sternenlose, bedrückende Nacht, fand ich ihn auf dem Vorderdeck, wo er stand und in die unruhige See hinausstarrte. Als er mich hinter sich hörte, drehte er sich um und schenkte mir ein leises Lächeln – wenig ermutigend, aber ausreichend für mich, seine Andacht kühn zu unterbrechen.
»Du mußt dich sehr um Caramon sorgen«, fing ich freundlich an.
Zu meiner Überraschung zog der junge Magier eine Augenbraue hoch, als läge ihm dieser Gedanke völlig fern. »Caramon«, sagte er zu mir mit seiner üblichen Schroffheit, »kann für sich selber sorgen. Wenn er nicht in der Straße von Schallmeer umgekommen ist, bin ich ziemlich sicher, daß wir ihn irgendwo in diesem verwünschten Teil von Krynn finden werden. Es ist wahrscheinlicher, daß er uns rettet, als daß wir ihn retten.«
»Aber ich dachte«, setzte ich an, »wir hätten den ganzen Weg zurückgelegt, weil du glaubst, daß er von Minotauren gefangengenommen wurde.«
»Ja… teilweise«, sagte Raistlin. Er wollte etwas anderes sagen, hielt dann inne, vielleicht um seine Gedanken zu sammeln, vielleicht um einfach den Mantel enger um sich zu schlingen und die nächtliche Kälte abzuhalten. »Aber«, fuhr er kurz darauf fort, »es gibt wichtigere Dinge zu bedenken als das Schicksal meines Glückspilzes von Bruder. Da wäre noch der Grund, warum er entführt wurde, und dann dieses seltene Kraut, die Jalopwurz.« Sein Tonfall war sehr ernst. In der Dunkelheit konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen.
Ich kam näher, weil ich ihm das Geheimnis entlocken wollte.
»Was also ist es, Raistlin?« fragte ich. »Welchem Zauber jagen wir über Tausende von Meilen hinweg nach?«
Er drehte sich zu mir um und musterte mich durchdringend. Er schien meine Frage erst zu überdenken, denn er ließ sich mit der Antwort Zeit: »Der Spruch, auf den ich gestoßen bin, kann nur von einem hohen Kleriker des Minotauren gesprochen werden. Es ist ein Spruch, der ein Portal öffnet und den Gott der Stiermenschen, Sargonnas, Diener der Takhisis, in die Welt einläßt.«
Jetzt war es an mir, schweigend zu überlegen. Als Magier glaubte Raistlin an die Götter des Guten, die Götter der Neutralität und die Götter des Bösen, deren höchste Göttin Takhisis war. Obwohl ich in meinem Leben sowohl Gutes als auch Böses gesehen habe, war ich mir wegen der Götter nicht so sicher wie der junge Magier. Sargonnas war ein Gott, über den ich wenig wußte.
Vielleicht merkte Raistlin meine Zurückhaltung, jedenfalls wandte er sich seufzend ab. »Das ist noch nicht alles«, sagte er. »Dieser Spruch kann nur bei bestimmten Konjunktionen von Mond und Sternen gesprochen werden. Es ist ausgesprochen umständlich, alles vorzubereiten. Das kann nur heißen, daß die Stiermenschen ein Ziel haben, das wichtig genug ist, um Sargonnas’ Hilfe anzurufen. Morat glaubt – und ich stimme ihm zu –, es müsse sich um einen Plan für die Eroberung ganz Ansalons handeln.«
»Aber das würde den Minotauren doch nie allein gelingen, ganz gleich, wie viele sie sind oder wie gut organisiert«, wandte ich ein.
»Richtig«, sagte Raistlin. »Aber wenn sie nun Bündnisse mit unüblichen Verbündeten schließen – mit den bösen Rassen des Meeres oder den Ogern zum Beispiel?«
»Sie sind zu arrogant«, wehrte ich ab, »diese Rasse würde niemals Bündnisse schließen.«
»Das ist vielleicht nicht wahr«, sagte Kirsig, die aus den Schatten trat. Die Halbogerin hatte die Angewohnheit, sich an einen heranzuschleichen, aber Raistlin hegte eine merkwürdige Sympathie für sie und schien sich nicht an ihrer Gegenwart zu stören. Auch nicht an der offensichtlichen Tatsache, daß sie uns belauscht hatte.
»Das könnte einiges von den seltsamen Dingen erklären, die in den letzten paar Monaten in Ogerstadt vor sich gingen«, fuhr Kirsig fort.
»Was denn?« fragte Raistlin interessiert.
»Delegationen – ganze Galeeren – von Minotauren kamen zu Besuch, um mit den verschiedenen Ogerstämmen zu verhandeln. Das ist höchst ungewöhnlich. Ich habe noch nie zuvor von Freundschaft zwischen Ogern und Minotauren gehört. Normalerweise war es nämlich gerade umgekehrt: tödliche Feindschaft.«
»Verstehst du, was ich meine?« sagte Raistlin zu mir, als er sich umdrehte und die Hände um die Reling schloß. Er starrte auf das dunkle Wasser und den noch dunkleren Himmel. »Caramons Schicksal ist meine geringste Sorge!«
Am frühen Morgen dachte einer der Matrosen, er hätte im Wasser neben dem Schiff eine Bewegung gesehen. Alle waren auf der Hut, weil sie wußten, daß in diesen fremden Gewässern alles vorkommen konnte.
Gegen Mittag wurde das Tier wieder gesichtet – eine riesige, graue, schlüpfrige Form, die der Castor zu folgen schien. Bei dem heißen, drückenden Wetter kamen wir nur langsam voran, und das Tier paßte sich unserer Geschwindigkeit an. Seine schlängelnden Bewegungen wirkten beinahe träge. Es blieb so tief unter der Oberfläche, daß wir nichts Genaues erkennen konnten, außer, daß es etwa so groß und lang war wie das Schiff selbst.
Am späten Nachmittag hatte das seltsame Wesen uns bereits ein Dutzend Meilen weit verfolgt, ohne aufzutauchen. Diese Zurückhaltung machte uns gleichmütig. Einige Matrosen der Castor waren unter Deck, während andere auf ihren Posten dösten, als das Ding plötzlich seinen Kopf hob und angriff.
Ich war mittschiffs, als ich hochsah und einen langen, gekrümmten, schlangenartigen Körper erblickte, der sich auf uns stürzte.
Sofort wußte ich, was es war: Ein Nacktkiemer, eine Riesennacktschnecke des Meeres, die in dieser Gegend selten ist. Ich wich gerade rechtzeitig hinter eine Vorratskiste zurück, denn die Schnecke schlug mit ihrem aufgerissenen Maul aufs Achterschiff und spie gleichzeitig einen dicken Strom ätzenden Speichels aus.
Die Castor schwankte. Jeder, der stand, stürzte hin, jeder, der schlief, schreckte hoch. Eine aus der Mannschaft hatte keine Zeit gehabt, der sauren Spucke auszuweichen. Sie schrie und wälzte sich auf dem Deck, weil der Schmerz unerträglich war. Ein anderer bemerkte den Nacktkiemer nicht rechtzeitig und wurde verschlungen.
Wer den Angriff gesehen hatte, schrie um Hilfe, und die anderen kamen mit Waffen angerannt, die im Vergleich zu dem enormen Körper des Nacktkiemers lächerlich winzig aussahen. Kapitän Nugeter rannte von unten herauf und schrie Befehle. Yuril hatte am Ruder gestanden. Jetzt hockte sie neben mir und starrte das Ungeheuer entsetzt an.
Unter unseren Augen hob die Riesenschnecke ihren häßlichen, tentakelbewehrten Kopf so hoch, daß wir ihren tödlich weißen Unterleib sehen konnten, und warf sich dann aufs Deck. Sie benutzte ihren Körper wie einen Rammbock. Holz splitterte in alle Richtungen auseinander. Der Nacktkiemer war halb an Deck, halb in der See. Das Schiff legte sich gefährlich schief.
Minutenlang tauchte der Kopf der Riesenschnecke unter Deck, wo wir ihn nicht sehen konnten. Grauenhafte, schlürfende Geräusche und die Schreie der Seeleute, die in ihrem Quartier gefangen waren, zeigten, in welchem Blutrausch das Tier schwelgte.
»Flint!« schrie ich plötzlich.
»Pst!« sagte der Zwerg. »Ich bin genau hinter dir.«
Das war er, und Raistlin und Kirsig auch. Alle sahen staunend zu, wie die Riesenschnecke wieder den Kopf hob und noch einmal aufs Schiff knallte. Das Deck kippte steil nach oben. Mit jedem Angriff des Nacktkiemers neigte sich die Castor bedenklicher.
»Sie frißt sich durch das Schiff«, sagte Raistlin.
»Die fressen alles«, sagte Yuril, »Pflanzen, Aas, Müll – alles.«
Vor unseren Augen sprang eine dunkelhaarige, kurzhaarige Frau aus der Mannschaft mit einem Angriffsschrei auf den Rücken der Riesenschnecke und stach mit ihrem scharfen Schwert zu. Aber die Nacktschnecke hatte eine dicke, gummiartige Haut, und die ansehnliche Klinge verursachte kaum eine Wunde. Der Nacktkiemer unterbrach seinen Angriff auf die Castor und brachte mit erstaunlicher Geschmeidigkeit seinen Kopf herum, packte die tapfere Matrosin mit dem Mund, zerfleischte sie und warf ihren Körper dann viele hundert Schritt weit in den Ozean.