Das helle Karmesinrot hielt den Kender bei Nacht hellwach. Also beschloß Tolpan, daß der Boden karmesinrot bleiben könnte, wenn man ein paar Teppiche darauf legte – bei Nacht würde er vom Boden sowieso nicht viel sehen –, doch die Wände müßten eine ordentliche Farbe wie Orange haben, während die Decke eine richtig böse Farbe wie Mitternachtsschwarz bekommen sollte.
Weil die beiden Minotaurenwachen ihre Sache bei den ersten beiden Malen so gut – oder auch so schlecht – gemacht hatten, wurden sie nochmals ausgewählt, Tolpans Zimmer neu zu streichen.
Alle Minotaurenwachen beschwerten sich untereinander bitterlich über Tolpan. Warum oder wann auch immer sie das Zimmer des Kenders betraten, höchstwahrscheinlich traf sie ein Wurfgeschoß, oder sie wurden von hinten gepiekst, oder sie stolperten über einen Draht, der quer durchs Zimmer gespannt war. Beleidigungen – die schlimmsten Beleidigungen, die Tolpan sich ausdenken konnte, nämlich Vergleiche mit dummen Kühen und Hornochsen – ergossen sich ununterbrochen über sie. Das Essen wurde zurückgewiesen und ihnen ins Gesicht geworfen.
Dogz, der einzige Minotaurus, dem es gelang, weder gestochen noch beleidigt zu werden, erinnerte sich traurig daran, wie nett der gute alte Tolpan gewesen war, ehe er böse geworden war.
»Tolpan Barfuß ist ein geschätzter Gefolgsmann des Nachtmeisters«, hatte Fesz erklärt. Und die Minotaurenwachen wagten keine Widerrede.
Für Fesz war Tolpans feindseliges, aggressives Verhalten der eindeutige Beweis, daß der Kender böse geworden war. Und falls sein boshaftes Verhalten nicht Beweis genug war, darüber hinaus hatte Tolpan höchst bereitwillig Fesz eine Menge über diesen dünnen, intelligenten Zauberer aus Solace erzählt, der ihn nach Südergod geschickt hatte, um von einem kräuterkundigen Minotauren das seltene Jalopwurzpulver zu kaufen.
Tolpan erzählte Fesz auch alles über seine guten Freunde, Flint und Tanis, den Halbelfen und seinen Onkel Fallenspringer, und wie er, Tolpan, beinahe mal mit einer Hand ein Wollmammut gefangen hätte. Er erzählte ihm von Sturm und Caramon, den Armen, deren Leichen inzwischen bestimmt am Grunde des Blutmeers von den Fischen gefressen wurden. Ein Glück, daß er die blöden Kerle los war, denn sie waren ehrenhaft und rein gewesen und hätten nicht in die neuen Anschauungen des Kenders gepaßt, denen zufolge die Welt dazu da war, überrannt, zerquetscht und erobert zu werden.
Der Kender redete richtig gern von seinen Freunden – »Exfreunden«, wie er sich manchmal korrigierte. Besonders gern redete er über den Zwerg, Flint Feuerschmied. Er redete so gerne über Flint, daß Fesz manchmal einen Arm um den Kender legen und ihn behutsam zu dem Thema Raistlin Majere zurücksteuern mußte, dem Feind der Minotaurenrasse und deshalb, wie Fesz ihn erinnerte, dem Feind von Tolpan.
Raistlin Majere war es, der Fesz am meisten interessierte. Dieser Mensch, der Zauberer werden wollte und der das Jalopwurzpulver gewollt hatte, weil er in einem alten Schriftstück auf einen Zauberspruch gestoßen war.
»Oh, Raistlin ist sehr schlau, ehrlich«, erzählte Tolpan Fesz. »Ein ziemlich guter Zauberer, wenn man bedenkt, daß er die Prüfung noch nicht abgelegt hat, aber frag’ mich nicht, was die Prüfung ist, denn das ist etwas höchst Geheimes, und auch wenn ich mehr darüber weiß als fast jeder andere, verknote ich mir die Zunge, wenn ich nur versuche, es zu erklären. Falls Raistlin herausgefunden hat, wo die Jalopwurz hin ist – also wo ich bin, hier in der Minotaurenstadt –, dann ist er bestimmt schon auf dem Weg hierher. Er will das Pulver bestimmt wiederhaben, und wahrscheinlich will er mich auch retten – hah! Bestimmt kommen Tanis und Flint auch mit. Mann, Flint wird einen Riesenspaß daran haben, wie böse ich bin, bis ich ihn umbringe!
Aber du hast recht, Fesz. Die eigentliche Gefahr ist Raistlin. Ich glaube, wir beide sollten uns lieber ausdenken, wie wir ihn fangen und würgen und erstechen. Und dann können wir vielleicht noch etwas richtig Böses mit seinem toten Körper anstellen, zum Beispiel – ich weiß nicht. Du hast mehr Erfahrung als ich in solchen Dingen. Was schlägst du vor?«
Wenn der Kender wirklich aufgeregt war – wie jetzt –, lief er im Kreis und wippte dabei mit einem unmißverständlich breiten, bösen Grinsen hin und her. Dann war Fesz hochzufrieden. Außerdem war das gewöhnlich die passende Zeit, dem Kender eine neue Dosis von dem Trank zu verabreichen, der ihn böse bleiben lassen würde, solange Tolpan ihn einnahm.
Tolpan war jetzt schon eine Woche ausgesprochen böse. Fesz hatte alles aufgeschrieben, was Tolpan bezüglich Raistlin und der Jalopwurz gesagt hatte, und das Wesentliche davon über den Kanal zum Nachtmeister auf der Insel Karthay geschickt. Obwohl der Kender böse war, war er trotzdem von unersättlicher Neugier erfüllt. Er bettelte Fesz an, ihm zu verraten, wie er sich mit dem Nachtmeister verständigen konnte.
Eines Nachmittags, als der Schamane einigermaßen väterliche Gefühle Tolpan gegenüber verspürte, nahm er den Kender in sein Zimmer mit, um ihm zu zeigen, wo er wohnte.
»He, wie kommt es, daß du einen größeren Raum hast als ich?« fragte Tolpan, der sich beleidigt umschaute. »Du hast auch schönere Bilder und größere Fenster – und zwei Fenster! Ich mag die Farben, die du dir ausgesucht hast – ein einfaches Braun mit Dunkelgrün kombiniert, wie Bäume und Blätter. Erinnert mich nämlich an einen Wald. Diese blöden Minotaurenwachen haben mich mit dem Rot und Blau und Orange ganz durcheinandergebracht. Wenn ich zurückgehe, werde ich ihnen aber meine Meinung sagen!«
Fesz legte den Arm um den zutiefst gemeinen Kender, dem er sich mehr und mehr verwandt fühlte, und führte ihn zum Fensterbrett. Auf dem Fensterbrett stand ein großes, rundes Glas mit ungewöhnlich umfangreichen Bienen mit ausgesprochen langen Stacheln. Laut summend flogen sie im Glas herum.
»Diese äußerst intelligenten Bienen bringen meine Botschaften zum Nachtmeister«, sagte Fesz eindringlich, während er Tolpans Reaktion beobachtete. »Sie können weite Entfernungen überwinden und Nachrichten telepathisch übermitteln. Natürlich«, er zwinkerte Tolpan verschlagen zu, »kann man sie auch für gemeinere Zwecke verwenden, aber am nützlichsten sind sie als schnelle, zuverlässige Nachrichtenüberbringer.«
Zum ersten Mal im Leben war Tolpan sprachlos. Sein Kiefer klappte herunter. Von solchen Tieren hatte er auf all seinen Reisen noch nie gehört.
Schwungvoll schraubte der Schamane den Deckel ab und ließ die Bienen in die Luft steigen. Sie sammelten sich kurz dicht über dem Glas, ehe sie sich zum Schwarm formierten und in östlicher Richtung davonsummten.
»Hui!« rief Tolpan aus. »Als ich aus Südergod zurückkam, habe ich Raistlin eine magische Botschaft geschickt – deshalb weiß er wahrscheinlich, wo wir sind –, aber ich hatte bloß diese blöde, alte Flasche, die ich in den Ozean werfen mußte, und wer weiß, ob sie nicht auf den Grund des Meeres gesunken ist? Wenn ich solche Bienen gehabt hätte, hätte ich… aber wo hätte ich sie aufbewahrt? Ich glaube nicht, daß es eine gute Idee ist, sie in meinem Rucksack mitzunehmen, denn wenn das Glas zerbricht, dann – «
Erfreut über den unablässigen Redefluß von seiten des Kenders schrieb Fesz diese neueste Mitteilung auf, während Tolpan weiterbrabbelte. Das würde in seinen nächsten Bericht an den Nachtmeister kommen.
Bis jetzt hatte der Minotaurenschamane eine ziemlich genaue Beschreibung von Raistlin Majere und dem Halbelfen und dem Zwerg, die ihn wahrscheinlich begleiten würden. Er hatte eine Vorstellung von den Schwächen des jungen Magiers. Verkleidete Meuchelmörder – Minotauren wären zu auffällig – würden nach Solace geschickt werden, falls Raistlin noch dort sein sollte. Aber wenn Raistlin schon auf dem Weg zu den Minotaurischen Inseln war, wäre der Nachtmeister vorgewarnt und bereit. Dieser Raistlin war keine wirkliche Drohung, dessen war Fesz sich sicher. Aber es konnte nichts schaden, wachsam zu sein.
Am achten Tag nach der Verwandlung des Kenders zum Bösen, betrat Fesz Tolpans Zimmer. Er sah verwirrt aus. Er trug ein Pergament mit einer Nachricht, die er selbst niedergeschrieben hatte. Es war eine Botschaft vom Nachtmeister, die die superintelligenten Bienen Fesz gebracht hatten.