»Wo ist dann dieser Raistlin?«
»Das weiß ich nicht«, gab Fesz zu. »Vielleicht kommt er auch gar nicht. Vielleicht haben wir ihn weit überschätzt. Auf jeden Fall glaube ich, daß Raistlin Majere höchstens ein kleines Ärgernis darstellt, eine Mücke auf dem Arsch eines Mammuts.«
Die acht Mitglieder des Obersten Kreises grinsten, als Fesz den alten minotaurischen Vergleich benutzte.
Der König wirkte zufrieden. »Was ist mit dem Kender?« wollte er wissen. »Steht er noch unter dem Einfluß des Gesinnungstrunks?«
Fesz nickte. »Allerdings«, knurrte Fesz, »und er hat sich als wirklich hilfreicher Verbündeter erwiesen. Ich habe vor, ihn nach Atossa und Karthay mitzunehmen. Ich hoffe, ich kann den Nachtmeister überzeugen, daß er bei dem Ritual eine Rolle bekommt.«
Der König sah ihn skeptisch an.
»Keine Sorge«, sagte der Minotaurenschamane. »Vor meiner Abreise werde ich sicherstellen, daß die Dosis des Tranks verdoppelt wird.«
11
Die alten Kyrie
Obwohl er in dem Sack hin und her geschüttelt wurde, der seinen wiederholten Versuchen widerstand, ein Guckloch hineinzureißen, hatte Caramon nicht das Gefühl, daß er unmittelbar in Gefahr schwebte.
Der Majerezwilling glaubte, daß man ihn von dem Minotaurengefängnis weit fortbrachte, obwohl er nicht ahnte, wer seine Retter waren und warum sie ihn geholt hatten. Er war zwar froh, die Minotauren los zu sein, doch er machte sich Gedanken um Sturm, den er hatte zurücklassen müssen. Ihm wurde klar, daß er sich selbst jetzt in der Gefangenschaft von jemand anders befand. Eigentlich hatte er nur die eine Gefangenschaft gegen eine andere eingetauscht.
Seine Beunruhigung wurde die nächsten zwei Stunden nicht gerade dadurch gemildert, daß er offenbar durch die Luft getragen wurde. Caramon konnte unter sich oder neben sich nichts fühlen. Die einzigen Geräusche, die seine Ohren wahrnahmen, klangen genau wie das stetige Schlagen von Flügeln und das gelegentliche Krächzen eines riesigen Vogels.
Irgendwo im Hinterkopf meinte der junge Krieger sich daran zu erinnern, daß er ein ähnliches Krächzen schon einmal gehört hatte.
Irgendwann hatte Caramon das Gefühl, er würde aus großer Höhe herabsinken, ein Abstieg, der damit endete, daß der Jutesack, in dem er zusammengerollt hing, über steinigen Grund bumste und ratschte. Gleich darauf zog jemand den Sack auf. Auf wackligen Beinen kam Caramon heraus.
Ein atemberaubender Ausblick bot sich ihm.
Er stand auf einem Absatz in einem steilwandigen Canyon, der sich rechts und links außer Sichtweite schlängelte. In den Canyonwänden lagen wie Waben Dutzende von Höhlen, so weit das Auge sehen konnte. Und vor den Höhlen saßen wie zur Begrüßung Hunderte von Angehörigen eines alten, wundersamen Volks, dessen abgelegene Zivilisation nur wenige Menschen bisher hatten sehen dürfen.
Ein Willkommenskomitee dieser phantastischen »Vogelmenschen« stand bei Caramon auf dem Absatz. Sie waren eine Mischung aus Habicht und Mensch, denn sie gingen aufrecht auf langen, sehnigen Beinen, die mit vogelartigen Klauen endeten. Riesige, gefiederte Flügel wuchsen aus ihrem Rücken und waren an Armen und Händen befestigt. Mit wachsender Erregung dachte Caramon, doch, sie sahen genau so aus wie…
… wie der gebrochene Mann unten in der Kerkerzelle. Das war sein Volk! Diese furchtbaren Wunden an seinem Rücken und den Schultern mußten, wie Caramon nun erkannte, die Folge dessen sein, daß die Minotauren ihm die Flügel ausgerissen hatten.
Der Vogelmann unmittelbar neben Caramon war der, der den Zwilling aus der Gefangenschaft gerettet hatte. Er war größer und schlanker als Caramon. Sein bronzefarbenes Gesicht, das sehr menschenähnlich erschien, war von einer wilden Schönheit. Statt Haaren wuchsen ihm weiche, goldene Federn aus dem Kopf. Schöne, braune Stoppelfedern bedeckten seine Brust. Er trug nichts weiter als einen ledernen Lendenschurz.
»Wer bist du?« fragte Caramon seinen Retter.
»In deiner Sprache«, sagte der Vogelmann stolz in der Gemeinsprache, »heiße ich Wolkenstürmer.«
Caramon suchte nach den rechten Worten. »Was seid ihr?«
Wolkenstürmer runzelte die Stirn und trat beiseite, wobei er mit den Flügeln einen der Vogelmenschen hinter sich herbeiwinkte.
Auf Wolkenstürmers Geste hin sah Caramon einen alten Mann vortreten, den er zunächst nicht bemerkt hatte. Andere scharten sich schützend um diesen ehrwürdigen Vogelmann, der auf seinen Klauenfüßen vorschlurfte, um Caramon zu begrüßen. Trotz seines seltsamen Gangs bewegte er sich würdevoll und geschmeidig.
Die Federhaare des alten Vogelmannes waren silberweiß und flossen bis auf seine Brust herab. Die jahrelange Einwirkung der Sonne und der Elemente hatten seinem Gesicht eine dunkle Farbe gegeben, viele Falten darauf hinterlassen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters strotzten Brust und die sehnigen Beine vor Muskeln.
Leicht gebeugt und mit schief gelegtem Kopf näherte sich der Alte Caramon, wobei in seinen klaren, gelben Augen ein warmer Glanz lag. »Wir sind die Kyrie«, erklärte der Alte mit knappen, aber klaren Worten. »Ich bin Arikara – in eurer Sprache Sonnenfeder, der Anführer des Volks, das den Himmel bewohnt.«
»Kyrie?« fragte Caramon.
Sonnenfeder neigte den Kopf und blinzelte Caramon an. »Ein stolzes, langlebiges Volk«, sagte der Kyrieführer leise. »Hast du nie von uns gehört?«
Caramon warf einen Blick auf die vielen hundert gefiederten Kyrie, die ihn aus der Sicherheit ihrer jeweiligen hohen Landeplätze beobachteten. Sie murmelten untereinander, einige zeigten auf ihn. Vielleicht hatte Raistlin die Kyrie einmal erwähnt. Sein Zwillingsbruder las so viele Bücher, daß Caramon kaum mitkam. Der große Krieger schüttelte langsam den Kopf, um Sonnenfeders Frage zu beantworten.
»Das war zu erwarten«, sagte Sonnenfeder, der Caramon eine riesige Schwinge um die Schulter legte und ihn langsam zu einer Höhle führte, die in die Wand des Canyons gegraben war.
Die Höhle hatte Caramon vorher nicht gesehen, vielleicht weil die Haut, die den Eingang verhängte, sandsteinfarben war und mit der Felswand verschmolz. Einige der anderen Kyrie folgten ihnen, darunter Wolkenstürmer, sodann ein weiterer alter Mann, dessen Gesicht von Sommersprossen übersät war, und zwei Frauen, die eine älter, die andere jünger, beide in Lederröcken und Hemden, die mit Federn und Perlen verziert waren.
Der Eingang führte in eine geräumige Höhle, die sich zu einer hohen Kuppel wölbte. Heu und Zweige bedeckten den Boden der gestampften Erde. Eine Feuergrube in der Mitte, in der heiße Steine lagen, spendete Wärme. Waffen und Kochgeschirr hingen an der Wand. Pelze, die mehr als ausreichten, um die Kälte der Wüstennacht abzuwehren, waren an der Schwelle gestapelt.
Sonnenfeder nahm die beiden Frauen beiseite und gab ihnen Anweisungen in einer Sprache, von der Caramon kein Wort verstand.
Wolkenstürmer bot Caramon einen Platz an der Feuergrube an. Der andere Alte, den Wolkenstürmer als Drei Weitblick-Augen vorstellte, saß gegenüber dem Besucher. Wolkenstürmer nahm neben Drei Weitblick-Augen Platz.
Sonnenfeder setzte sich voller Tatendrang neben Caramon. Er nahm einen Stock und kritzelte auf dem Boden herum. Caramon brauchte einen Augenblick, bis er erkannte, daß Sonnenfeder eine grobe Karte zeichnete. »Vor Jahrhunderten bewohnten die Kyrie viele Inseln auf Ansalon«, erklärte Sonnenfeder Caramon. »Wir sind durch die Welt gezogen und nie lange an einem Ort geblieben. Unsere langen Flüge über die Ozeane wurden durch ein magisches Gerät namens Nordstein ermöglicht. Weil wir uns immer mehr auf den Nordstein verließen, verloren wir viele unserer angeborenen Instinkte, einschließlich des Orientierungssinns. Dann verloren wir den Nordstein – er fiel in die Hände unserer erbitterten Feinde, der Minotauren.«
Die weiblichen Kyrie huschten im Hintergrund umher, wo sie offenbar das Essen vorbereiteten. Jetzt tauchte die ältere Frau hinter den drei Kyriemännern und Caramon auf und verteilte Steinbecher mit einer blassen, fleckigen Flüssigkeit. Caramon nahm seine Schale in beide Hände und schlürfte eifrig. Die warme Brühe war mit nichts zu vergleichen, was Caramon je probiert hatte – kräftig, wohlschmeckend und sofort sättigend. Er spürte, wie sie sich in seinem Körper ausbreitete, ihn aufmunterte und seinen Hunger stillte.