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Das Gesicht des Kyrieführers verhärtete sich bei den bitteren Erinnerungen, als er mit seiner Chronik fortfuhr. »Mit der Zeit haben wir uns hier gesammelt«, erzählte Sonnenfeder, »die meisten von uns auf der Insel Mithas, andere vereinzelte Clans auf nahen Inseln. Obwohl wir immer noch weit und lange fliegen könnten, überqueren wir die Ozeane nicht mehr. Ohne den Nordstein sind wir in diesem Teil der Welt gefangen. Wir leben hier«, er zeigte um sich, »so gut wir können, so friedlich, wie man es uns gestattet.«

Caramon hatte zahllose Fragen, die er gern gestellt hätte. Mit zweien platzte er sofort heraus: »Was wollt ihr von mir? Warum habt ihr mich aus dem Kerker von Atossa gerettet?«

Wolkenstürmer antwortete, bevor Sonnenfeder zu Wort kam. »Ich habe dich und deinen Freund im Blutmeer halb ertrinken sehen. Ich habe getan, was ich konnte, um euer Schicksal zu erleichtern.«

Caramon riß die Augen auf. »Also du warst das!« rief er aus. »Du hast uns eine Art Brot heruntergeworfen.«

»Das war mein eigener Proviant«, sagte der Kyrie milde.

Spontan streckte Caramon die Hände aus und umfaßte die des Kyrie. »Du hast uns das Leben gerettet«, sagte der Majerezwilling voller Wärme. »Und dann hast du dein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, damit ich aus dem Gefängnis fliehen konnte.« Die Worte des jungen Kriegers entsprangen direkt seinem Herzen. »Damit stehe ich auf ewig in deiner Schuld.«

Wolkenstürmer schien sich bei Caramons ausgedehntem Gefühlsausbruch etwas unbehaglich zu fühlen. Sonnenfeder strahlte. »Wolkenstürmer ist mein Sohn«, sagte der alte Kyrie stolz. Als Caramon den Vogelmann anstarrte, der soviel auf sich genommen hatte, um ihn zu retten, schlug Wolkenstürmer die Augen nieder.

»Ich habe zwei Söhne«, fügte Sonnenfeder hinzu. »Mein Erstgeborener…« Ihm versagte die Stimme. »Mein Erstgeborener, Morgenhimmel, ist der, der… mit dir… im Gefängnis von Atossa festgehalten wurde.« Voller Kummer ließ er den Kopf hängen.

Caramon wußte nicht, was er sagen sollte. Endlich hatte er erfahren, wer der gebrochene Mann war. Seine Gefühle überwältigten ihn. Der Mann war also Sonnenfeders Erstgeborener, Morgenhimmel. Ob Sonnenfeder wußte, wie nah sein Sohn dem Tode war? Wie Morgenhimmel von den Minotauren gefoltert und gequält worden war? Ob Sonnenfeder wußte, wie tapfer und entschlossen sein Sohn war? Wie er selbst in den kurzen Unterhaltungen mit Caramon keine Angst vor seinem Schicksal gezeigt hatte?

Schweigen senkte sich über den Raum, das dann vom kläglichen Weinen der einen Frau gebrochen wurde.

»Wir wissen, wie die Minotauren Morgenhimmel behandeln«, sagte Sonnenfeder leise. »Wir wissen, daß er fast zu Tode gefoltert wurde. Wir haben wenig Hoffnung, ihn jemals wieder als freien Mann unter uns zu sehen.«

Es war, als hätte der Anführer der Kyrie Caramons Gedanken gelesen. Als er Caramons fragenden Blick bemerkte, zeigte Sonnenfeder auf seinen Kopf, und Caramon erinnerte sich an das, was der gebrochene Mann über Telepathie gesagt hatte.

»Aber warum konntet ihr nicht deinen Sohn statt meiner befreien?« fragte Caramon ernst.

»Mein Sohn ist immer angekettet«, erwiderte Sonnenfeder mit unbewegter Stimme, »außer wenn man ihn essen läßt. Sonst würde er sich umbringen. Soviel wissen die Minotauren über die Kyrie, auch wenn sie sonst wenig über uns wissen. Für einen Kyrie ist es eine Schande, lebend gefangen zu werden.«

Caramon trank von seiner Brühe. Es kam ihm nicht gerecht vor. Er war frei, während Morgenhimmel im Gefängnis gequält und geschlagen wurde. »Vielleicht«, schlug der Menschenkrieger vor, »wenn wir das Verlies stürmen…«

»Das wäre Selbstmord für alle Beteiligten«, warf Drei Weitblick-Augen ein, der sich erstmals äußerte. Das Gesicht des Alten war düster. »Wir sind ein mutiges Volk, aber wir sind keine Dummköpfe.«

»Was ist mit dem Tunnel?«

Wolkenstürmer rümpfte die Nase. »Der Tunnel ist zu eng. Es würde Stunden dauern, durch den Tunnel auch nur eine kleine Angreifertruppe in das Gefängnis zu schleusen, und eine schnelle Flucht wäre unmöglich. Wir müßten mit einem Dutzend Wachen fertigwerden, dazu mit den Ketten und Riegeln in der Zelle meines Bruders. Wir haben darüber lange nachgedacht. Wir haben es besprochen und keine Lösung gefunden.«

Der Kyrie runzelte die Stirn. Ein Schatten verdüsterte sein Gesicht. »Nein, für meinen Bruder gibt es kein Entkommen. Er ist verloren.«

Von den anderen Kyrie kam murmelnde Zustimmung. Caramon saß lange still. »Warum martern sie ihn?« fragte der junge Mann aus Solace laut.

»Wir sind seit Hunderten von Jahren mit den Minotauren verfeindet«, antwortete Sonnenfeder. »Mit der Zeit haben wir uns in diesen und anderen abgelegenen Bergen gesammelt und leben weitab von den minotaurischen Städten. Obwohl wir die Täler durchstreifen, um Nahrung zu sammeln und kleine Tiere zu jagen, ziehen wir uns immer hierher zurück. Die Stiermenschen sind zwar für Schlachten zu Land und zu Wasser gerüstet, aber sie sind zu dumm, um die Berge zu erkunden. Sie können nicht auf die hohen Gipfel klettern und uns vertreiben. Für sie sind wir ein feindliches Volk mitten in ihrer Heimat. Für uns sind sie die Pest. Während sie entschlossen sind, uns zu jagen und zu vernichten, haben auch wir uns geschworen, sie zu töten, wo auch immer sie unseren Weg kreuzen. In den letzten Monaten«, fuhr Sonnenfeder fort, »sind Minotaurentruppen in unser Territorium eingedrungen und wurden bei der Suche nach unseren Horsten kühner. Die Stiermenschen haben ein paar unserer kleineren, weiter draußen liegenden Siedlungen überfallen. Die Krieger wurden bezwungen, unsere Frauen und Kinder scharenweise niedergemetzelt. Es heißt, daß sie in einigen Fällen von fliegenden Schuppenwesen unterstützt wurden, die das Gelände vorher erkundeten und Waffen und Vorräte transportierten.«

»Drachen?« Jetzt war Caramon derjenige, der die Nase rümpfte. »Jeder weiß, daß es keine Drachen auf Ansalon gibt. Das sind Ammenmärchen, Sagen.«

»Keine Drachen«, mischte sich Wolkenstürmer ein. »Fliegende Wesen, wie es sie früher nicht gab.«

Caramon sah ungläubig aus.

»Natürlich haben wir keinen Beweis«, sagte Sonnenfeder. »Es gibt keine überlebenden Augenzeugen. Die Minotauren haben alle Kyrie getötet und alles verbrannt. Sie haben nur verbrannte Erde hinterlassen. Sie machen selten Gefangene.« Er hielt inne, gönnte sich einen Schluck heiße Brühe und fuhr fort, wobei er seine Worte sorgfältig wählte und seine Gefühle beherrschte. »Mein Sohn, Morgenhimmel, ist eine der Ausnahmen. Er wurde in einem Vorposten gefangen, den er befehligte. Sie erkannten, daß er von hohem Rang ist, möglicherweise von edler Herkunft. Von ihm wollten sie etwas über unsere Stärke, unsere Gebräuche und Rituale und die Lage unserer Zufluchtsstätten erfahren.«

Der Monolog schien Sonnenfeder erschöpft zu haben, denn sein Gesicht wurde schlaff, und er ließ die Schultern sinken. Er setzte seine Tasse Brühe ab, faltete dann die Hände und nickte Wolkenstürmer zu.

»Sie haben nichts aus ihm herauspressen können«, spie Wolkenstürmer aus, »und das werden sie auch nicht, ganz gleich, wie grausam sie ihm zusetzen. Morgenhimmel wird seinen letzten Atemzug tun, ohne ihnen auch nur seinen Namen zu verraten.«

Caramon blickte in Wolkenstürmers mattschwarze Augen, die grimmig und schicksalsergeben schauten wie die seines Bruders, des Gebrochenen. Sonnenfeder streckte den Arm aus und berührte seinen Sohn am Handgelenk. Die ältere Kyriefrau kam herüber und flüsterte Sonnenfeder etwas ins Ohr. Der alte Kyrie nickte.

»Und was ist mir dir, mein Sohn?« fragte Drei Weitblick-Augen sanft, um das Schweigen zu brechen. »Wie heißt du? Was ist dir zugestoßen?«

Caramon erzählte es ihnen, ohne etwas auszulassen. Die Reise nach Südergod, der magische Sturm, die Gefangennahme von Tolpan, was Sturm und er im Meer durchgemacht hatten, ihre Gefangenschaft. Obwohl die Kyrie sich außerordentlich für die Rolle interessierten, die die Minotauren in Caramons seltsamer Geschichte spielten, konnten sie wenig dazu beitragen, das Geheimnis zu klären, warum das minotaurische Königreich sich dermaßen mit einem einzelnen Kender oder gar dem Kraut, der Jalopwurz, beschäftigte.