Die beiden Menschen hätten im Blutmeer ertrinken müssen, hatten jedoch irgendwie überlebt und waren im Gefängnis von Atossa aufgetaucht. Unglücklicherweise hatte der Nachtmeister davon zu spät erfahren. Auf irgendeine geheimnisvolle Weise, die die Gefängnisbeamten noch immer nicht durchschauten, war einem der Menschen die Flucht geglückt. Das war Raistlins Zwillingsbruder, Caramon. Das allein war schlimm genug.
Jetzt kam die Nachricht, daß auch der andere Mensch entkommen war – auf erstaunliche Art. Nachdem der Möchte-Gern-Ritter von Solamnia zum Tod in der Grube des Untergangs verurteilt worden war, hatten die Kyrie diesen Sturm Feuerklinge im letzten Moment durch einen Luftangriff gerettet. Trotz aller Bemühungen der minotaurischen Soldaten waren die Kyrie nach Norden geflohen, in ihren verborgenen Schlupfwinkel in den Bergen.
Die Nachricht von Fesz besagte, daß der böse Kender, Tolpan Barfuß, schwor, er hätte gesehen, daß Caramon Majere die waghalsige Rettungsaktion bei Tageslicht befehligt hatte.
Die beiden Menschen, Caramon und Sturm, mußten eine Art Bündnis mit den Vogelmenschen geschlossen haben, den erklärten Feinden der Minotauren.
Das war wirklich beunruhigend, wie der Nachtmeister fand.
Auch dem Obersten Kreis wurde bei den Berichten von diesen Geschehnissen unwohl. Dazu kam, daß sich die Orughi zierten, große Truppen dem Kommando der Minotauren zu unterstellen. Die Ogerstämme hatten geradeheraus gesagt, daß sie nicht an dem Versuch der Versklavung der Welt teilnehmen würden, bis sie den Beweis für die Existenz von Sargonnas gesehen hatten.
Auch auf andere Partner konnte er sich nicht mehr richtig verlassen.
Der Nachtmeister bückte sich und ließ graue Vulkanasche durch seine Finger rieseln. Er war von einer eingeäscherten Stadt umgeben, deren Treppen nirgendwo hinführten, deren Säulen nichts mehr trugen. Ein langer Tisch und ein Stuhl standen am flackernden Feuer. Ein Regal enthielt Bücher, aber auch Becher mit Spruchingredienzien.
Das Zimmer war eher eine Ansammlung von Möbeln als ein Zimmer, denn es hatte weder Wände noch Türen noch eine Decke. Es lag offen unter dem schwarzen, abweisenden Himmel in der Mitte der Ruinen.
Dieser Teil der alten Stadt war einst der Eingang zur großen Bibliothek gewesen. Jetzt war es nichts als kaltes, vulkanisches Gestein.
Der Nachtwind zog durch die Federn und Glöckchen des Nachtmeisters. Er warf einen Blick auf die Menschenfrau in ihrem Holzverschlag. Obwohl Kitiara tagelang nichts gegessen hatte, war sie voller Energie und lief ruhelos in ihrem Gefängnis umher.
Der Nachtmeister sah zu seinen höchsten Akolythen hinüber, den zwei Mitgliedern der Hohen Drei, die hiergeblieben waren, als Fesz nach Mithas abgereist war. Sie drängten sich aneinander und schliefen, nur durch eine Decke geschützt, im Sitzen.
Minotaurensoldaten patrouillierten um das Lager herum.
Seufzend blickte der Nachtmeister zum Himmel, auf die Monde und die Sterne.
Noch drei Tage, zwei Nächte.
Es waren nur noch wenige Stunden bis zur Morgendämmerung. Noch ein paar Stunden eisiger Kälte, bis nach Sonnenaufgang die gnadenlose Hitze wiederkehren würde. Der Nachtmeister machte sich Sorgen, doch er vertraute weiter auf Sargonnas. Nachdem er sich in seinen Mantel gewickelt hatte, legte sich der Nachtmeister auf den kalten Boden und schlief sofort fest ein.
13
Die Insel Karthay
Die beschädigte Castor war dabei, aus der Bucht in die offene See einzufahren. Während er dem Schiff von der Küste aus nachsah, zog Tanis den Sack zurecht, den er auf dem Rücken hatte. Er enthielt ein paar Vorräte, die Kapitän Nugeter ihnen überlassen hatte. Neben ihm stand Flint, der von einem Bein aufs andere trat, um dadurch sein verwundetes Bein möglichst zu entlasten, ohne daß es jemand bemerkte. Kirsig jedoch betrachtete den Zwerg besorgt.
Yuril und die anderen vier Matrosinnen von der Castor, die beschlossen hatten, daß der Dienst auf einem halben Wrack nicht nach ihrem Geschmack war, zogen gerade ihre beiden kleinen Boote den Strand hinauf. Tanis hoffte, daß sie nicht eine unangenehme Arbeit gegen eine schlimmere eingetauscht hatten.
Raistlin stand abseits von den anderen mit dem Rücken zum Meer und musterte das Gelände.
Der schmale, steinige Streifen Strand ging in niedrige Sanddünen über. Dahinter stieg das Land an und bildete ein Labyrinth aus Schluchten und Plateaus. Soweit das Auge reichte, war die Gegend kahl und wenig einladend.
Obwohl es noch Vormittag war, brannte die Sonne heiß und hell vom Himmel. Ein trockener Wind wirbelte den Sand an der Küste auf. Tanis merkte, wie der Staub in seine Kehle drang.
Eine Hand streifte den Arm des Halbelfen. Sie gehörte Raistlin. Der junge Zauberer hatte die unangenehme Angewohnheit, sich so leise zu bewegen, daß es schwer war, ihn im Auge zu behalten.
Raistlin schien von der aufgebrochenen, herben Landschaft wenig abgeschreckt zu sein. »Ich rechne mit zwei Tagesreisen ins Landesinnere, bis wir die Ruinen der alten Stadt erreichen«, sagte der Magier leise zu Tanis. »Glaubst du, daß Flints Bein mitspielt?«
»Sein Bein ist viel besser«, erwiderte Tanis. »Der alte Zwerg hält wahrscheinlich länger durch als wir alle.«
Beide Männer warfen einen Blick auf Kirsig, die sich um Flint bemühte, wohl um ihm eine Salbe für sein Bein anzubieten, während der Zwerg grummelnd versuchte, sie zu verscheuchen. Aber nicht allzu nachdrücklich, wie Tanis feststellte. Er und Raistlin grinsten sich an.
Als Tanis sich wieder umdrehte, schwand sein Anflug von guter Laune. »Raistlin, fragt sich nur: Was ist unser Ziel? Du hast uns nicht gerade viel über den Spruch erzählt, der deiner Meinung nach ein Portal öffnet, um diesen bösen Gott oder was-auch-immer in die Welt zu lassen.«
Raistlin bemerkte nicht nur die Ungeduld, sondern auch den Hauch von Skepsis in Tanis’ Stimme. »Du hast doch bestimmt im Land des Volks deiner Mutter etwas über die alten Götter gelernt«, antwortete der junge Magier, obwohl er wußte, daß jede Anspielung auf Tanis’ gemischte Herkunft den Halbelfen verletzen konnte. Raistlin sah, daß seine Worte getroffen hatten, denn Tanis stieg die Röte ins Gesicht.
»Ich kann nicht schwören, daß der Spruch, den ich entdeckt habe, ein Portal öffnet oder ob alte Götter wie Sargonnas mehr als Sagen sind«, fuhr der Zauberer schroff fort. »Ich weiß allerdings, daß es ein alter und mächtiger Zauberspruch sein müßte. Und ich weiß eines: Wenn die Möglichkeit besteht, daß Sargonnas in diese Welt eintritt, dann ist es an uns, dies um jeden Preis zu verhindern.«
»Was ist mit Sturm und Caramon und Tolpan? Sind die irgendwo auf dieser Insel?« fragte Tanis. »Sind die nicht der Grund, warum wir eine so weite Reise hinter uns haben?«
»Ich kann keinen Zauberstab schwenken, um festzustellen, ob sie hier sind oder nicht«, fauchte Raistlin, »aber du hast gehört, was Kirsig gesagt hat. Die Minotauren schließen Bündnisse mit anderen Rassen. Wenn, wie ich vermute, die Minotauren in ihrem uralten Traum befangen sind, die Welt zu erobern, und dazu Sargonnas holen wollen, damit er ihnen hilft, ist es egal, wo Caramon und die anderen sind. Wir schweben alle in höchster Gefahr.«
Raistlin hielt inne und atmete tief durch. Sichtlich ruhiger fuhr er fort: »Das Jalopwurzpulver war nur eine der benötigten Zauberzutaten. Der Zauber verlangt auch ein akzeptables Blutopfer für Sargonnas. Ich vermute, daß man Caramon, Sturm und Tolpan vielleicht deshalb in diesen Teil der Welt geschleppt hat. Einer von ihnen könnte das benötigte Opfer sein.
Wir haben wenig Zeit. Der Zauber kann nur bei bestimmten Konjunktionen von Sonne, Monden und Sternen stattfinden. Diese Konjunktionen kommen nur alle hundert Jahre einmal vor, und die nächste ist in nur drei Nächten.
Jetzt laß mich dir eine Karte zeigen, die ich aus einem alten Atlas in Morats Bibliothek abgemalt habe.«
Tanis wartete. Er war überzeugt. Mit Flint und Kirsig, die die heftige Diskussion mitangehört und sich zu ihnen gesellt hatten, betrachtete der Halbelf ein Stück Pergament, das Raistlin hervorgezogen hatte. Es war mit krakeligen Linien und geographischen Symbolen bedeckt. Yuril und die anderen Seefahrerinnen kamen eilig dazu. Alle drängten sich um den jungen Magier.