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»Ich glaube, der Zauber wird irgendwo in oder bei den alten Ruinen der Stadt Karthay gesprochen werden«, sagte Raistlin. »Die Stadt wurde während der Umwälzung durch einen Vulkanausbruch zerstört und unter tonnenweise Asche und Lava begraben. Für die Minotauren ist es ein heiliger Ort.« Er zeigte auf eine Stelle der Karte, wo ein Bergzug eingezeichnet war. »Sargonnas ist der Gott der Wüsten, des Feuers und der Vulkane«, fügte er hinzu.

»Der Karte nach müßten wir eigentlich rechtzeitig ankommen, aber die Reise dürfte gefährlich werden. Jedem, dem diese Aussichten nicht zusagen, steht es frei, hierzubleiben und auf uns zu warten.« Dabei sah Raistlin auf, schaute aber nicht Flint an, sondern Yuril und ihre Matrosinnen.

Diese hatten anscheinend schon über das Risiko gesprochen. »Ich habe eine offene Schuld zu begleichen«, meinte die sehnige Yuril, »und meine Freundinnen hier ziehen nicht zum ersten Mal auf Abenteuer aus. Ich spreche für alle, wenn ich sage, daß wir unser Glück mit euch versuchen wollen.« Yuril hatte das voller Stolz gesagt. Eine Hand lag am Griff des Kurzschwerts, das an ihrer Hüfte hing. Man sah die Muskeln ihrer gebräunten Unterarme.

Wir können von Glück sagen, daß sie und die anderen dabei sind, dachte Tanis.

»Diese tote Stadt«, meldete sich Flint, »ist doch sicher gut bewacht, und Sturm und Caramon und der verwünschte Kender ebenso. Was hast du vor, wenn wir dort sind?«

»Das weiß ich nicht«, gestand Raistlin. »Ich kann es erst sagen, wenn wir wissen, wie viele Soldaten das Gebiet bewachen. Gemeinsam«, fügte er mit einem Blick auf Tanis hinzu, »sollten wir einen Plan ausklügeln können.«

Tanis merkte, wie es ihm eng ums Herz wurde, weil er einmal mehr an Kitiara dachte. Er wandte sich von der Gruppe ab und tat so, als wollte er das unwirtliche Land betrachten.Sie folgten Raistlins Karte und wählten einen Pfad an einem Fluß entlang, der vor langer Zeit vom Dach der Welt zum Meer geströmt war. Jetzt war er ausgetrocknet und hatte nur aufgesprungene, von der Sonne zusammengebackene Erde zurückgelassen.

Der Flußlauf führte durch zahllose Abgründe und Schluchten bergauf und bergab. Nach Möglichkeit hielten sie sich an das staubige Flußbett. Zu anderen Zeiten folgten sie dem trockenen Fluß auf höher gelegenen Pfaden. Dann liefen sie im Gänsemarsch auf schmalen Uferwällen entlang. Den ganzen Tag behielten sie ihren Kurs bei, kamen aber durch das Hoch- und Runterklettern und die vielen Biegungen so unüberschaubar langsam voran, und Tanis fragte sich, welche Strecke sie eigentlich wirklich zurückgelegt hatten. Während sie auf einem der vielen Plateaus eine Pause einlegten, war der Halbelf froh, als er sah, wie weit das Blutmeer hinter ihnen lag, derweil ein gewaltiger Bergzug etwas nähergerückt war.

Das Land wirkte leer – frei von Bewuchs, Tieren, von allem Leben. Der starke, trockene Wind fegte über die höheren Erhebungen, blies ihnen ins Gesicht und trieb ihnen Sand in die Augen und in die Kehle. Über ihnen glühte die Sonne und verbreitete eine Hitze wie in einem Ofen, die höchstens die tiefsten Felsschluchten ausnahm. Wenn sie jedoch plötzlich bergab in kühle Schatten eintauchten, spürten sie den Hauch von etwas Schlimmerem – der bitteren Kälte des Landes bei Nacht.

Am späten Nachmittag war die kleine Gruppe erschöpft und entmutigt. Raistlin und Tanis führten die Reihe an, denn gemeinsam leiteten sie die Gruppe. Flint und Yuril bildeten die Nachhut. Schweigend durchwanderten die Gefährten den Grund einer Schlucht, waren jedoch nicht mehr so zuversichtlich, daß sie den richtigen Weg eingeschlagen hatten.

Ganz plötzlich stießen Raistlin und Tanis hinter einer Biegung auf eine glatte Felswand, die unerklimmbar vor ihnen aufragte. Rechts und links ging es senkrecht fünfzig Fuß in die Höhe. Wieder einmal hatte die Gruppe keine andere Wahl als umzukehren und in den eigenen Fußstapfen zurückzulaufen.

Bis Flint und Yuril aus der Schlucht geklettert waren und Raistlin das trockene, gewundene Flußbett unten wieder sichtete, ging bereits die Sonne unter. Tanis spürte einen ersten Kälteschauer, als Dunkelheit sich über dem Land ausbreitete. Er sah Flint auf den Boden sinken. Sein Gesicht war von Schweiß und Dreck verschmiert. Die meisten der Seefahrerinnen folgten seinem Beispiel sofort.

Raistlin warf neben ihm einen Blick auf die Karte. Er drehte das Pergament in den Händen, um irgendwie herauszufinden, welches der beste Weg war.

»Der alte Fluß teilt sich immer wieder und ändert die Richtung«, sagte der junge Magier erschöpft.

»Deine Karte muß hundert Jahre alt sein«, sagte Tanis. »Wer weiß, wie viele Erdrutsche und Erdbeben es seitdem hier gegeben hat?«

Raistlin sah ihn stirnrunzelnd an. »Ich glaube nicht, daß einer von uns heute noch weiter kommt«, meinte der Halbelf leise mit einem Wink auf die Gruppe, die hinter ihnen zusammengesunken war.

»Ich habe dir gesagt«, erklärte der Zauberer scharf, »daß es schwerwiegende Folgen haben kann, wenn wir nicht innerhalb von zwei Tagen in Karthay sind.«

»Vielleicht sind die Zwillingsmonde später in der Nacht so hell, daß wir ein gutes Stück schaffen«, sagte Tanis diplomatisch. »Aber hier und jetzt wäre es das beste, wenn wir Rast machen und essen. Außerdem meine ich, ich hätte tagsüber ein paar Gruben von Ameisenlöwen gesehen, und da wollen wir doch kaum im Dunkeln hineinstolpern.«

Flint war hinter ihm aufgetaucht. »Gruben von Ameisenlöwen?« fragte der Zwerg besorgt. »Ich stimme Tanis zu. Laßt uns hier das Nachtlager aufschlagen.«

Raistlin zögerte.

»In einer der Schluchten wäre es geschützter«, fügte Flint hinzu, »aber wir wären auch leichter anzugreifen.« Tanis nickte.

Mit einem tiefen Seufzer gab Raistlin nach. Sein blasses, abgespanntes Gesicht verriet plötzlich starke Erschöpfung. Tanis war ziemlich sicher, daß der junge Zauberer nicht mehr lange durchgehalten hätte.

Jeder war froh über diese Entscheidung.

Als die Nacht hereinbrach, fiel die Temperatur immer weiter ab. Der Wind wurde bitterkalt. Sie lagerten hinter ein paar Felsen. Obwohl die Felsen gegen den beißenden Wind nur einen armseligen Schutz boten, hatten sie einen anderen Vorteil, wie Flint auffiel. »Im Dunkeln wird es jedem Angreifer schwerfallen, zu unterscheiden, was Stein ist und was lebendig«, sagte der Zwerg, »und wir werden doppelt so viele erscheinen, wie wir wirklich sind.«

Yuril meldete sich freiwillig zur abendlichen Jagd, aber Tanis schlug ihr Angebot aus. »Es ist schon zu dunkel«, erklärte Tanis. »Wenn überhaupt jemand jagen geht, dann ich, da ich nachts sehen kann. Aber selbst wenn ich etwas erlegen würde, könnten wir es nicht kochen. Raistlin und ich sind uns einig, daß wir kein Feuer machen sollten, bis wir ganz sicher sind. Auf diesem hohen Plateau wäre ein Feuer wie ein Leuchtturm.«

Die kleine Gruppe drängte sich im Windschatten der Steine zusammen. Tanis ging von einem zum anderen, um den Proviant zu verteilen, den er trug – kleine Stücke Brot, Trockenfrüchte und eine halbe Tasse Wasser für jeden. Sie waren den ganzen Tag an keinem Bach, keiner Quelle vorbeigekommen, wo Tanis seinen Wasserschlauch hätte auffüllen können. Als er bei Flint ankam, bemerkte Tanis, daß Kirsig nicht wie üblich an der Seite des Zwergs war.

»Wo ist Kirsig?« fragte der Halbelf irritiert.

»Keine Sorge«, raunzte der Zwerg. »Die ist weggehuscht, um irgendwas zu machen, nachdem du dich übers Feuer ausgelassen hast. Jetzt habe ich wenigstens mal meine Ruhe.«

Erschrocken über diese Neuigkeit blickte Tanis auf das dunkle Plateau hinaus, sah jedoch keine Spur von der Halbogerin. Trotz seiner Proteste spähte auch Flint nervös in die anbrechende Nacht. Da kam Kirsig herangetrottet. Sie hatte eine dicke Tasche dabei.

»Hallo, ihr Süßen. Ihr habt euch doch keine Sorgen um mich gemacht, oder?« fragte sie und kniff Flint in die Wange. »Ich dachte bloß, da wir nicht soviel Grünzeug dabei haben, sollte ich mal sehen, was ich ausgraben kann. Und ich hab’ gegraben!« Triumphierend hielt sie die Tasche hoch.