»Was machst du eigentlich hier?«
Diese Frage kam Caramon und Raistlin gleichzeitig von den Lippen. Trotz der kalten Nachtluft und trotz der widrigen Umstände mußten die Zwillinge sich angrinsen.
»Ich vermute, daß wir uns lange Geschichten zu erzählen haben. Vielleicht sollten wir erst einmal Feuer machen, um beim Erzählen unsere Knochen zu wärmen«, schlug der Kyrie mit Namen Wolkenstürmer vor.
»Wir haben kein Feuer gemacht, weil wir fürchteten, es könnte verraten, daß wir hier sind«, erklärte Tanis.
»Keine Bange«, versicherte ihm Wolkenstürmer. »Unsere Späher durchstreifen den Himmel über der Insel. Im Westen gibt es nur rauhe, unwirtliche Wüste, weit im Norden einen bergigen Regenwald. Die einzigen Minotauren, die wir gesichtet haben, lagern am Fuß der Gipfel vom Dach der Welt in den Ruinen der alten Stadt Karthay. Auf dem Landweg sind es von hier aus zwei bis drei Tage, für einen Kyrie nur einige Flugstunden.«
Die Kyrie hatten eine kleine Menge Feuerholz und Zunder dabei. Als schließlich ein Feuer brannte, hatten alle bessere Laune. Die gemischte Gesellschaft kauerte sich um die Flammen.
Kirsig machte Wasser heiß, um einen besonderen Tee für Sturm zu brauen, der jetzt, bei Licht betrachtet, blaß und mitgenommen aussah. Caramon hingegen wirkte dünner, aber robuster. Er war immer noch eine eindrucksvolle Erscheinung. Jedenfalls war Yuril, die dem jungen Krieger gegenüber saß, augenscheinlich dieser Meinung.
Während Sturm seinen Tee schlürfte, erzählte Caramon von dem Verrat an Bord der Venora, dem Zaubersturm, der ihn mit Sturm und Tolpan über Tausende von Meilen ins Blutmeer versetzt hatte, der Entführung von Tolpan, und wie man sie über Bord geworfen hatte. Über seine und Sturms lange, qualvolle Tortur im Meer ließ Caramon sich nicht weiter aus. Als er aber über ihre Gefangenschaft in Atossa zu reden begann, richtete Raistlin sich auf und hörte besonders interessiert zu.
»Zuerst hatten uns die Minotauren wohl gefangengenommen, um Sklaven aus uns zu machen. Oder wir sollten zu ihrem Spaß als Gladiatoren kämpfen«, erzählte Caramon.
»Aber nachdem die Kyrie Caramon gerettet haben, kamen ein paar hochrangige Minotauren und stellten Fragen«, warf Sturm mit leiser Stimme ein. »Sie kannten deinen Namen, Raistlin – und auch Kitiaras – und erwähnten einen gewissen Nachtmeister. Das Seltsamste daran war, daß Tolpan bei ihnen war und ihnen zu helfen schien.«
»Tolpan?« fragte Flint ungläubig. »Ich habe den kleinen Kender nie für einen Helden gehalten, aber daß er gemeinsame Sache mit den Minotauren macht, die dich gefangenhalten – vielleicht haben sie ihn nur unter irgendeiner Drohung mitgeschleppt, damit du glaubst, er würde ihnen helfen. Um deinen Widerstand zu brechen.«
»Keiner hat Tolpan zu irgend etwas gezwungen«, erwiderte Sturm bitter. »Er hat ihnen freiwillig die Feinheiten der Folter erklärt. Außerdem war es Tolpan Barfuß, der meinen Schnurrbart abgeschnitten hat!« Sturm schwieg, um seinen Zorn zu beherrschen. »Und was viel schlimmer ist: Es war Tolpan, der vorgeschlagen hat, daß ich ein Duell auf Leben und Tod in der Grube des Untergangs kämpfen sollte. Nach allem, was ich mitbekommen habe, bevor unsere Freunde, die Kyrie mich retteten, glaube ich, daß die Minotauren Kitiara irgendwo auf dieser Insel gefangenhalten. Deshalb sind wir hierhergekommen, ohne überhaupt zu ahnen, daß ihr in der Nähe seid.«
»Wir versuchen, jede ungewöhnliche Truppenbewegung der Minotauren im Auge zu behalten«, fügte Wolkenstürmer hinzu. »Vor einigen Monaten haben wir beobachtet, daß sie in den Ruinen der alten Stadt Karthay ein Lager aufgebaut haben. Jetzt sieht es so aus, als würden mit jeder Woche mehr Stiermenschen dort eintreffen.«
Raistlin war inzwischen so aufgeregt, daß er aufgestanden war und umherlief, während Caramon, Sturm und Wolkenstürmer ihre Geschichte erzählten.
»Der Nachtmeister muß damit rechnen, daß wir bereits hier sind«, warf Raistlin ein. »Das ist nicht gut. Und jetzt wissen wir, daß sie Kitiara haben. Das ist eine noch schlimmere Nachricht. Was du nicht weißt, Caramon, ist, daß die Minotauren sich hier versammelt haben, um einen mächtigen Zauber zu wirken, der einen ihrer bösen Götter in unsere Welt einlassen soll. Und für diesen Spruch braucht man einen Nichtminotauren als Opfer.«
»Wer ist dieser Nachtmeister?« wollte Flint wissen.
Tanis hatte gerade dieselbe Frage auf den Lippen.
»Er ist ihr oberster Schamane«, antwortete Raistlin. »Der Nachtmeister ist der, der den Spruch sagen würde, um das Portal für Sargonnas zu öffnen.«
Caramon und Sturm wirkten befremdet. Raistlin erklärte ihnen und den Kyrie rasch alles, was ihm, Tanis und Flint geschehen war – die magische Botschaft, die er von Tolpan erhalten hatte, der Besuch beim Orakel und die Reise durch das Portal nach Ogerstadt, die Flucht mit Kirsig aus Ogerstadt, ihre ereignisreiche Reise über das Blutmeer bis zu ihrer Ankunft auf der Insel Karthay.
»Der Grund unseres Kommens«, erläuterte der junge Magier, »ist, daß ich beim Stöbern in der Bücherei auf einen alten Spruch gestoßen bin. Der Spruch hat mich nicht mehr losgelassen, und ich hatte Tolpan bereits losgeschickt, um eine seltene Zutat dafür zu kaufen, das Jalopwurzpulver. Erst danach wurde mir die volle Tragweite meines Handelns bewußt. Der Spruch, der gerade vorbereitet wird, würde den bösen Herrn der Finsteren Rache, Sargonnas, in die Welt der Materie einlassen. Unterstützt von meinem Zaubermeister habe ich weiter geforscht und kam zu dem Schluß, daß der Spruch vom Nachtmeister der minotaurischen Nation auf der Insel Karthay gesprochen werden müßte.
Kirsig hat uns gesagt, daß die Stiermenschen Bündnisse mit den Ogern und anderen schändlichen Rassen schließen. Ich fürchte, das ist Teil ihres Plans, Sargonnas in unsere Welt zu holen und alles für die Eroberung Ansalons in die Wege zu leiten.«
»Sargonnas«, zischte Wolkenstürmer. »Du hast also schon von ihm gehört?« fragte Raistlin. »Eine Kyrielegende berichtet von einem Sargonnas, einem riesigen, roten Kondor, der unser Volk vor vielen Generationen heimgesucht hat. Er überredete einen unserer wankelmutigsten Edlen, dem Kondor den heiligsten Gegenstand unserer Nation, den Nordstein, auszuliefern. Damit konnten die Kyrie einst zwischen allen Inseln und Landmassen der Welt navigieren, anstatt in dieser kleinen Ecke im ständigen Krieg mit unseren Feinden, den Minotauren, festzusitzen«, erklärte Wolkenstürmer. »Wenn Sargonnas auf seine Wiederkehr hofft, ist das eine sehr schlechte Nachricht für mein Volk. Wir werden euch mit allem helfen, was in unserer Macht steht.«
Einen Augenblick schwieg alles, denn die enorme Aufgabe, die vor ihnen lag, bedrückte die Gruppe. Was machen wir jetzt? Diese Frage lag jedem auf der Seele.
»Bis zum Morgen können wir überhaupt nichts tun«, beantwortete Tanis die unausgesprochene Frage. »Versuchen wir also, ein wenig zu schlafen.«Jetzt bestand die Gruppe aus acht Menschen, dazu einem Zwerg, einem Halbelfen, einer Halbogerin und sechs Kyrie. Weitere Kyrie kundschafteten Teile der Insel aus, aber am Morgen hatte erst einer das Lager erreicht. Das machte sieben Kyrie. Raistlin machte es Mut, daß die Kyrie die anderen in zwei Schichten an einen Ort nahe des Lagers des Nachtmeisters in der Ruinenstadt fliegen konnten. Erst würden die Kyrie Raistlin, Tanis, Caramon, Sturm und Yuril bringen. Nach kurzer Rast würden sie dann Flint, Kirsig und die Matrosinnen holen.
Trotz des Zeitaufwands für das zweimalige Hin und Her würde die Reise viel weniger Zeit beanspruchen als der Marsch über Land. Die Gefährten würden einen Tag vor der Himmelskonjunktion, die Raistlin für grundlegend wichtig für den Spruch hielt, am Rand der Ruinenstadt eintreffen.
Flint, der bereits das Blutmeer hinter sich hatte, hatte es nicht eilig, von den gefiederten Vogelmenschen durch die Lüfte getragen zu werden, ganz gleich, wie edel oder freundlich sie sich Caramon und Sturm gegenüber verhielten. »Mir macht es nichts aus, mit den ganzen Frauen hierzubleiben«, sagte der Zwerg. »Macht mir gar nichts aus. Erstmal will ich zusehen, wie ihr alle auf Himmelsfahrt geht, und wenn ihr nicht hinunterfallt oder abstürzt oder von der Sonne gebraten werdet, dann komme ich nach, keine Sorge.«