»Was ist mit dem Menschen, Sturm?«
»Ein Zwischenfall, der allen Minotauren zur Schande gereicht«, stimmte Fesz zu, »aber nicht Tolpan anzulasten. Sturm hatte den Zweikampf schon fast verloren, und Tolpan hat so laut gebrüllt wie wir alle. Kein Minotaurus war wütender über die Rettung als Tolpan. Er bestand darauf, daß zahlreiche Wachen zum Tode verurteilt werden müßten, weil sie es zugelassen hatten, daß der Solamnier entkam! Er hat sogar darum gebeten, einen persönlich hinrichten zu dürfen. Das konnten wir wegen der Staatsgesetze natürlich nicht erlauben, aber Tatsache ist, daß er gefragt hat.«
Der Nachtmeister schien diese Mitteilung zu verarbeiten. Dann drehte er sich achselzuckend zu seinem Zimmer ohne Wände um, das einst der Eingang zur großen Bibliothek gewesen war. Während er sich mit tierhafter Geschmeidigkeit bewegte, raschelten die Federn im Wind, und die Glöckchen um seine ausladenden Schultern und Hörner bimmelten.
»Hallihallo, Nachtmeister!« zirpte Tolpan ihm nach.
Der Nachtmeister drehte sich nicht um, um den Gruß des Kenders zu erwidern. Der Oberschamane setzte sich schwerfällig an seinen langen Tisch, während die anderen beiden Angehörigen der Hohen Drei ihm hurtig Zauberbücher und Zutaten brachten. Diese baute er vor sich auf, prüfte und verglich sie und schrieb dabei mit einer Feder etwas auf.
»Etwas unnahbar, hm?« meinte Tolpan.
»Es ist bald soweit«, grollte Fesz vielsagend. »Der Nachtmeister muß seine gesamte Aufmerksamkeit auf die bevorstehende Aufgabe richten. Ich muß zu ihm, Tolpan, und ihm bei seinen Vorbereitungen helfen.«
Fesz drehte sich um und ging zu dem langen Tisch, wo er sich zu den anderen zwei hohen Akolythen des Nachtmeisters begab. Als der Nachtmeister sich über seine Berechnungen beugte, standen die Hohen Drei hinter ihm. Sie achteten darauf, ihn nicht zu unterbrechen, ihm jedoch sofort jeden Wunsch zu erfüllen, wenn er eine Anweisung brummte.
Tolpan zuckte mit den Achseln und hüpfte zu dem Holzverschlag, in dem Kitiara gefangen saß. Sie sah ein wenig abgemagert und ungebadet aus, dachte er bei sich. Er bemerkte, daß Dogz, der in der Nähe auf einer Decke lag, ihn genau beobachtete.
»Also, Kit«, sagte Tolpan gutgelaunt, »wie bist du denn so schnell nach Karthay gekommen? Ich bin beeindruckt. Ich wette, es war etwas Magisches, hm?«
Kitiara sah ihn mit steinernem Blick an.
»Gut, dann verrate mir eines: Wie kommt es, daß sie dich so leicht erwischt haben? Ich dachte, Caramon wäre der einzige blöde Majere.«
Sie funkelte ihn an und stieß jedes Wort einzeln heraus: »Wie oft muß ich dir das eigentlich noch sagen? Ich bin keine Majere!«
Tolpan zuckte mit den Achseln. »Na gut, dann eben eine halbe Majere. Wahrscheinlich die Hälfte, die gefangen wurde.« Er kicherte über seinen eigenen Witz.
»Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, hier wimmelt es nur so von Minotauren. Woher sollte ich das wissen?«
Tolpan schnitt ihr das Wort ab. »He, ich hab’ gehört, daß du geopfert werden sollst, wenn es soweit ist – morgen abend, hat Fesz gesagt. Wenn ich Raistlin also noch irgend etwas von dir ausrichten soll, falls ich ihn je wiedersehe, dann kannst du es mir jetzt sagen.«
Mit aller verbliebenen Kraft warf sich Kit vergeblich gegen das Käfiggitter. Die Latten erzitterten, und der Kender wich auf eine sichere Entfernung zurück. Kit drückte ihr Gesicht an die Latten und fauchte Tolpan an.
»Ich weiß nicht, was du Böses im Schilde führst, Tolpan«, zischte Kit, »aber wenn ich je wieder hier rauskomme, dann lege ich meine Hände um deinen kleinen Verräterhals und bring’ dich um!«
»Ach, tut mir leid, daß du so denkst«, sagte Tolpan in verletztem Ton, »weil wir doch so gute, alte Freunde sind. Außerdem«, fügte er frech hinzu, »frage ich mich, ob du nicht ein kleines bißchen eifersüchtig bist. Gib’s zu, du hättest nichts dagegen, selbst mal ein Weilchen böse zu sein…«
Kit durchbohrte ihn mit ihren Blicken.
Tolpan trat grinsend zu Dogz zurück. Der Kender drehte sich um und sah den Minotaurus an, der ihn bedauernd ansah.
»Und was ist mit dir los?« fragte Tolpan, der sich neben dem Minotaurus, der ihn bewachen sollte, auf den Boden hockte.
»Nichts, Freund Tolpan«, sagte Dogz, der etwas trockene Asche durch seine Finger rieseln ließ. Er mied Tolpans Blick.
»Nichts, Freund Tolpan«, ahmte Tolpan ihn mit singender Stimme nach. Er sah sich um. Seiner Schätzung nach umstand etwa ein Dutzend Minotauren das Lager des Nachtmeisters. Sie trugen alle möglichen Waffen – Doppeläxte, beschlagene Keulen, Wurfspeere und Geißeln. Dutzende weitere durchstreiften weiter draußen das Gelände.
Im Gegensatz dazu war keiner der Hohen Drei bewaffnet, auch der Nachtmeister nicht. Nur Dogz trug Breitschwert, Katar und Kettenflegel.
Dogz senkte seine Stimme zu einem leisen Knurren. »Manchmal wundere ich mich über dich, Freund Tolpan«, sagte der Minotaurus.
»Was wunderst du dich?«
»Ob du wirklich mit all diesen Leuten befreundet bist – erst Sturm. Und jetzt diese Frau, Kitiara. So wie du sie behandelst.«
Tolpan klopfte Dogz auf die Schulter. »Tja, ich bin doch jetzt ein böser Kender, oder?« erinnerte er Dogz. »Ich gebe mir bloß größte Mühe, mich entsprechend zu verhalten. Klar, sie waren mal meine Freunde. Aber damals war ich gut – na ja, ziemlich gut – jedenfalls meistens. Jetzt bin ich böse. Und wenn ich sie verrate, mache ich es als Böser doch ganz richtig. Du solltest stolz auf mich sein.«
»Ja«, sagte Dogz zögernd.
»Ich sehe das so«, führte Tolpan aus, der sich auf dem Rücken auf die aschebedeckte Erde legte und die Hände hinter dem Kopf verschränkte. »Inzwischen bin ich so eine Art Ehrenmitglied der Minotauren. Hast du mir nicht erzählt, daß die Macht das Recht bestimmt und daß die Minotaurenrasse eines Tages die Welt erobern will und so?«
»Ja«, erwiderte Dogz wieder.
»Nun, ich beweise nur meine Treue gegenüber dem minotaurischen Volk. Wenn du die Wahl hast, dein Volk zu verraten oder deine Freunde – hups, ich meine, deine ehemaligen Freunde –, was würdest du tun?«
Der Minotaurus senkte seine riesigen Hörner. Als er wieder aufsah, waren seine Augen groß und traurig. Sein fauliger Atem überwältigte Tolpan regelrecht. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich meine Freunde verraten«, fügte er langsam, offensichtlich verwirrt hinzu.
»Freust du dich nicht auf den Zeitpunkt, wo Sargonnas die Welt betritt?«
Dogz sah nach drüben, wo der Nachtmeister saß und seine Zauberbücher las. Hinter ihm standen die Hohen Drei.
»Doch«, sagte Dogz.
»Na, siehst du? Ich auch«, sagte Tolpan triumphierend. Er klopfte Dogz auf die Schulter. »Mach dir nicht so viele Gedanken, Dogz«, fügte der Kender hinzu. »Davon kriegst du Runzeln auf der Schnauze.« Tolpan gähnte übertrieben. »Jetzt werde ich etwas ausruhen. Das brauche ich dringend.«
Der Kender schloß die Augen. Einen Moment später machte er eins wieder auf, um Dogz’ Reaktion zu beobachten.
Dogz hatte sich aufgesetzt und putzte mit sinnendem Blick seine Waffen. Wie Tolpan zogen die Minotauren gewöhnlich klare Grenzen zwischen Freunden und Feinden – den Kendern zum Beispiel. Dogz hatte Kender immer gehaßt, obwohl er noch nie einen gesehen hatte. Als er Tolpan auf der Venora zum ersten Mal erblickt hatte, hatte er ihn nicht einmal berühren wollen. Tolpan war für ihn schlimmer als ein Feind gewesen, eines der niedersten Wesen der Schöpfung.
Aber nachdem er Tolpan gefangengenommen und eine Menge Zeit mit ihm verbracht hatte, hatte Dogz den eigenartigen kleinen Wicht immer lieber gemocht. Er hatte seine Tapferkeit unter der Folter und seinen Sinn für Humor in lebensgefährlichen Situationen bewundert. Durch die Gespräche mit Tolpan hatte er viel über Solace und die Freunde des Kenders erfahren – besonders den knurrigen Zwerg Flint Feuerschmied und Tolpans Onkel Fallenspringer –, und er hatte sie allmählich auch als seine Freunde angesehen.