Dogz hatte reichlich Verwandte, aber er hatte wenig Freunde. Freundschaft war für ihn etwas ganz Neues, und das hatte Tolpan ihn gelehrt.
Dann hatte Fesz Tolpan böse gemacht, und der Kender hatte sich verändert. Er wurde fordernd. Es machte weniger Spaß, bei ihm zu sein. Vielleicht würde der böse Tolpan dabei helfen, Sargonnas in die Welt zu bringen, aber Dogz war sich nicht sicher, ob ihm der alte Kender nicht besser gefallen hatte.
Dogz seufzte. Er beugte sich vor, um etwas Schmutz von seinem Katar zu kratzen, einer langen Klinge an einem H-förmigen Griff. Er ölte und polierte seinen ungewöhnlichen Dolch, während er lange angestrengt über das Thema Freundschaft nachdachte.
Zwanzig Schritt weiter lief Kitiara in ihrem Holzkäfig rastlos auf und ab. Ihren wachsamen Augen entging nichts. Sie spitzte die Ohren, um Fetzen der Unterhaltungen um sie herum aufzufangen, wenn Worte zu ihr herüberdrangen. Kit war nicht gerade begeistert von Kendern, aber ihr hatte Tolpan, so wie er früher gewesen war, jedenfalls besser gefallen.
Der Nachtmeister hatte Sturm erwähnt, also war der Solamnier anscheinend noch am Leben. Und kürzlich hatte Kit ihn auch von Caramon und Raistlin reden hören. Sie waren unzweifelhaft alle irgendwo in der Nähe, und der Nachtmeister befürchtete, sie könnten sich einmischen.
Dieser Gedanke zauberte ein schiefes Lächeln auf Kitiaras Gesicht.
Die Sonne stand am Zenit. Das Land wurde unter ihrer Hitze gebacken, und die Erde brach auf. Den dickhäutigen Minotauren schien das Klima wenig auszumachen. Dogz säuberte und ölte sorgfältig seine Waffen. Die Minotaurenwachen am Rand des Lagers liefen auf ihren festgelegten Runden regelmäßig durch Kitiaras Blickfeld.
Der Nachtmeister saß an seinem langen Tisch, wo er die Ingredienzien für den gewaltigen Zauberspruch morgen abend überprüfte.
Einer der wenigen Vorteile von Kits engem Käfig war, daß die Holzlatten über ihrem Kopf das schlimmste Sonnenlicht abhielten. Ihr Blick glitt zu dem verräterischen Kender. Er hatte die Augen geschlossen. Tolpan Barfuß schien friedlich zu schlafen.Während der Nachtmeister über seinem Spruch saß, dachte er den Augenblick seines Triumphs vor fünf Tagen zurück – einen Tag, bevor sie die Menschenfrau gefangen hatten –, als der Zeitpunkt für den Spruch bestätigt wurde und Sargonnas sich dem Minotaurus gezeigt hatte.
Er war zur Mittagszeit oben auf dem Bergplateau zwischen den farbigen Glasprismen, den Kristallen und den silbernen Spiegelscherben gewesen. Aus ihnen las er die Bewegung von Sonne und Sternen und berechnete ihre Stellung am Himmel in Beziehung zu den Monden. Er war zu dem Schluß gekommen, daß alle äußeren Bedingungen stimmten.
Plötzlich sah er eine Welle in einer der spiegelnden Oberflächen. Als er sich umschaute, sah er in den glänzenden, geschliffenen Glasstücken Flackern und Wellenbewegungen. Unter dem staunenden Blick des Nachtmeisters nahm das Flackern und Wabern Gestalt an, bis jedes Glasstück ein Stück des Gesichts von Sargonnas zeigte.
Ein schreckliches, furchteinflößendes, bedrohliches Gesicht hinter einem roten Nebel starrte den Nachtmeister aus schwarzglühenden Augen an.
Dann war das Angesicht von Sargonnas in den Glasstücken plötzlich verschwunden.
Sein Blick wurde zum Himmel gezogen, wo der Nachtmeister einen großen roten Kondor mit schwarzen Federn wahrnahm. Seine ausgebreiteten Flügel schienen den Himmel zu verdecken. Der Kopf war seltsam klein und nackt. Feuer umflackerte seine Flügelspitzen.
Sei gegrüßt, Nachtmeister, Diener des Bösen.
Der rote Kondor schien mit seidenweicher, schmeichelnder Stimme im Kopf des Nachtmeisters zu sprechen. Flammenzungen schossen aus seinem Schnabel.
Sei gegrüßt, Sargonnas, Gott der Finsteren Rache, Genosse der Takhisis.
Der Nachtmeister hatte sich noch nie so mächtig – oder so armselig – gefühlt wie damals, als Sargonnas zum ersten Mal zu ihm sprach.
Dein Plan ist mir bekannt. Seit Jahrhunderten warte ich auf einen mit deiner Kühnheit, deinem Mut. Seit Jahrhunderten brenne ich darauf, die Welt der Materie zu betreten und meine Kräfte zu entfesseln. Seit Jahrhunderten werde ich enttäuscht. Hast du jede Vorkehrung für den Spruch getroffen? Bist du zur rechten Zeit bereit?
Ja, Herr.
Bist du auf der Hut vor Täuschungen? Verrat?
Ja, Herr.
Bist du würdig?
Ich glaube schon, Herr.
Enttäusche mich nicht. Wage es nicht, mich zu enttäuschen, oder du erfährst, daß meine Rache dich überall erreicht.
Damit war der rote Kondor schimmernd mit der Sonne verschmolzen und hatte sich aufgelöst, als wäre er nie gewesen.
Der Nachtmeister war auf die Knie gesunken und hatte benommen den Kopf abgewendet. Das Gespräch mit Sargonnas hatte nur in seinem Bewußtsein stattgefunden. Als er sich umsah, merkte er, daß die Minotaurenwachen immer noch ungerührt an ihren Plätzen standen. Sie hatten Sargonnas weder gehört noch gesehen.
Dasselbe galt für die zwei Mitglieder der Hohen Drei, die nichts Ungewöhnliches bemerkt hatten – bis jetzt.
Einer von ihnen war zum Nachtmeister hochgelaufen gekommen. »Geht es Euch gut, Exzellenz?« hatte der junge, starke Stiermann besorgt gefragt.
Der Nachtmeister hatte nicht sofort geantwortet. Der junge Schamane hatte sich bemüht, dem Nachtmeister beim Aufstehen zu helfen.
»Geht es Euch gut, Exzellenz?«
Diesmal gehörte die Stimme Fesz. Der Schamane trat hinter dem Nachtmeister vor und tippte ihm auf die Schulter.
Als der Nachtmeister abrupt in die Gegenwart zurückkam, sah er sich einem Offizier der minotaurischen Truppen gegenüber. Der Offizier stand vor dem Nachtmeister, der gedankenverloren an seinem großen Tisch mitten in der toten Stadt gesessen hatte. Der Nachtmeister zwinkerte, betrachtete den gehörnten Soldaten vor sich und knurrte Fesz an: »Ja, natürlich geht es mir gut.«
»Ich bringe Neuigkeiten«, sagte der minotaurische Soldat. »Der Gruppe, die an der Südküste der Insel gelandet ist, hat sich ein Schwarm Kyrie angeschlossen.«
»Kyrie«, grunzte der Nachtmeister. »Wie viele?«
»Mindestens sechs, vielleicht sogar fünfzehn«, erwiderte der Soldat und fügte gleich hinzu: »Wahrscheinlich alle Angehörigen der Kriegergemeinschaft. Aber damit werden wir leicht fertig. Wir würden mit zehnmal so vielen fertigwerden.«
»Ja.«
Der Minotaurensoldat zögerte.
»Ja?«
»Sie laufen in diese Richtung. Sie scheinen genau zu wissen, wo sie hinwollen.«
»Warum laufen sie? Warum fliegen die Kyrie sie nicht hierher?«
»Das wundert uns auch, Exzellenz«, erwiderte der Soldat. »Vielleicht sind sie so viele, daß die Kyrie nicht alle tragen können, oder die Kyrie mußten sich nach ihrem Anflug von den Bergen von Mithas ausruhen.«
»Pah!« schnaubte der Nachtmeister so heftig, daß der Minotaurensoldat einen Schritt zurückwich. »Die Kyrie ermüden nicht so leicht. Es muß einen anderen Grund geben, den wir bald erfahren werden.«
Der Minotaurensoldat schien weniger gleichmütig zu sein. »Ja«, erwiderte der zurechtgewiesene Soldat. »Wir schätzen, daß sie morgen mittag hier sind.«
Zur Überraschung des Soldaten schien der Nachtmeister sich an dieser Nachricht nicht im mindesten zu stören. Im Gegenteil, er wirkte erfrischt und machte sich wieder an die Arbeit. Eifrig schrieb er an die Ränder des Buches, das er gelesen hatte.
Der Nachtmeister schaute auf. Diesmal wirkte er doch irritiert. »Ja? Ist noch etwas?«
»N-nein, Exzellenz«, stammelte der Soldat, der sich umdrehte, um zu verschwinden.
Gut, sagte der Nachtmeister zu sich. Die Menschen, die angeblich von einem Zwerg und einem Elfen begleitet wurden, waren unterwegs, und die Kyrie hatten sich ihnen angeschlossen. Das kam allerdings unerwartet. Er würde seinen Plan etwas ändern müssen, aber dafür war noch genug Zeit.