Eine Hand packte Tolpans Schulter und stieß den Kender unsanft beiseite. Der Nachtmeister trat an seine Stelle, beugte sich zu dem jungen Zauberer herunter und blies Raistlin seinen ranzigen Atem ins Gesicht.
»Das ist also der mächtige Raistlin«, knurrte der Nachtmeister.
»Dieser Mensch ist nichts neben Euch, Nachtmeister«, sagte Fesz verächtlich. »Er kämpft nicht einmal um sein Leben!«
»Er bleibt gefesselt!« befahl der Nachtmeister. »Wenn er etwas essen oder trinken will, bekommt er es. Aber unterschätzt ihn nicht. Bewacht ihn sorgfältig. Und jetzt laßt uns schnell aufbrechen! Ich will kein Risiko eingehen, und vielleicht hat er nicht die Wahrheit gesagt, als er behauptet hat, er wäre allein gekommen!«
Die Minotauren gehorchten eilig.
Tolpan stand langsam vom Boden auf. Er wußte, jede Silbe des Nachtmeisters war nahezu heilig, aber der böse Tolpan fand, daß der mächtige Schamane dennoch ein paar Manieren zu lernen hatte. Während er geknickt seine Schulter massierte, dachte der Kender an seinen guten, alten Hupak…Dogz war noch nicht sehr weit, als einer der Minotaurensoldaten ihm hinterhergerannt kam.
Sie waren in einem anderen Teil der zerstörten Stadt, an den Ruinen eines Säulengangs, den Überresten einer Mauer und eingestürzten Balken.
»Vom Nachtmeister«, sagte der Soldat, der Dogz eine Nachricht auf Pergament reichte.
Töte die Menschenfrau, lautete die Botschaft. Es war die unverkennbare Schrift des Nachtmeisters.
Dogz zögerte. Das Menschenbündel über seinen Schultern versuchte zu schreien und zu treten, jedoch ohne Erfolg. Der riesige Minotaurus legte Kit auf den Boden und stellte einen seiner gespaltenen Hufe auf sie, damit sie sich nicht zur Seite rollte.
»Ich muß mit der Gefangenen reden«, sagte Dogz. »Warte auf mich.«
Der Soldat wich in die Schatten zurück.
Dogz schaute sich um. In der Nähe stand eine geborstene Säule. Er schleppte Kitiara hin, nahm ein Stück Seil vom Arm und wickelte es fest um sie und die alte Säule. Dann nahm er ihr die Augenbinde ab.
Ihre Augen sahen ihn fragend an.
»Ich habe den Befehl, dich zu töten«, knurrte der Minotaurus einfach.
Kits dunkle Augen starrten ihn trotzig an.
Der Minotaurus sah sich um, bis er einen großen Steinblock sah. Dann ging er langsam hinüber und setzte sich. Der Auftrag, die Menschenfrau zu töten, verstörte ihn – zunächst einmal, weil diese Menschenfrau ein Freund des Kenders Tolpan gewesen war, bevor der Kender böse geworden war, und dann, weil der Nachtmeister sein Wort gegeben hatte, daß man die Menschenfrau freilassen würde.
Beide Gründe machten Dogz gleichermaßen zu schaffen, und der Minotaurus grübelte lange vor sich hin. Schließlich stand er auf und näherte sich der Menschenfrau. »Ich werde dich heute abend nicht töten«, sagte er einfach.
Er wollte ihr wieder die Augenbinde anlegen. »Ich bringe dich nicht zurück zum Nachtmeister«, erklärte er. »Ich lasse dich hier, bis wir zurück sind. Dann werde ich entscheiden, was zu tun ist.«
Kitiara kämpfte wütend mit ihren Fesseln, weil sie etwas sagen wollte.
Dogz hielt nachdenklich inne. »Wenn du zu schreien versuchst, schlage ich dir den Schädel ein«, sagte er. Dann entfernte er den Knebel.
»Es – es – es geht nicht um mich«, stammelte Kitiara halb erstickt.
Der Minotaurus wartete.
»Es geht um Raistlin«, sagte sie. »Er ist mein Bruder. Kannst du ihm irgendwie helfen?«
Der Minotaurus wollte den Knebel wieder anlegen.
»Warte!« rief sie leise.
Es folgte eine Pause, während der der Minotaurus sie verächtlich anblickte. »Raistlin soll das Opfer sein«, sagte Dogz. »Es ist eine Ehre für Raistlin, Sargonnas, den Gott der Minotauren, in diese Welt einzulassen.« Wieder wollte der Minotaurus sie knebeln.
»Dann vergiß Raistlin«, sagte Kit verzweifelt.
Dogz hielt inne.
Kits Gedanken überschlugen sich. Sie erinnerte sich an die Unterhaltung von Dogz und Tolpan über Freundschaft und Verrat, die sie mitangehört hatte. Das brachte sie auf eine Idee. Vielleicht war es Raistlins einzige Chance.
»Du… du bist Tolpans Freund, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Dogz mißtrauisch.
»Dann gib ihm etwas von mir.«
Sie sagte ihm, was es war. Er riß die Augen auf.
Dogz wich vor Kit zurück, drehte sich um und trat gegen den kalten, aschebedeckten Boden. Minutenlang stand er so da, während Kit ihn beobachtete. Sie wußte, sie hatte ins Schwarze getroffen. So merkwürdig es schien, aber der Minotaurus betrachtete sich als Tolpans Freund.
Langsam ließ Dogz den Knebel sinken. Kitiara verriet ihm, wo das Ding war. Er suchte ihren Körper ab und fand es. Es war sehr klein. Niemand hatte es bemerkt, als sie durchsucht worden war. Und niemand würde es auffallen, wenn Dogz es mitbrachte. Dogz steckte den kleinen Gegenstand in seinen Gürtel. Dann hob er schroff den Knebel und befestigte ihn straff vor Kitiaras Mund.
Er starrte sie an, bis er die Augenbinde wieder angelegt hatte.
Er suchte den Minotaurensoldaten und befahl ihm, hierzubleiben und Kitiara um jeden Preis zu bewachen.
Dann rannte Dogz los, um den Nachtmeister und seinen Troß einzuholen.
15
Der Angriff
Bis zur Dämmerung waren so viele Kyrie im Lager eingetroffen, daß Tanis ihre immer größer werdende Anzahl nicht mehr überschauen konnte. Zwanzig, vielleicht zwei Dutzend, schätzte der Halbelf. Die geflügelten Wesen flogen herbei und erstatteten Wolkenstürmer in ihrer eigenen Sprache Bericht. Dann drehten sie sich um, um die Menschen und die anderen zu betrachten. Einige flogen wieder los. Andere zogen Waffen heraus, die gewetzt werden mußten.
Die Chancen wurden besser, erklärte Tanis Flint. Der Zwerg runzelte die Stirn. Er war nicht restlos überzeugt. Ungeduldig wartete er, daß Wolkenstürmer ihnen mitteilen würde, was er von seinen Spähern erfahren hatte.
Flint und Caramon gingen zu dem Kyriekrieger, um mit ihm zu reden. »Wissen wir schon, wo Kitiara festgehalten wird und wie groß die Truppen unserer Gegner sind?« fragte Flint, der sich aus Rücksicht auf die Kyrie der Gemeinsprache bediente. Die anderen, einschließlich Tanis und Sturm, waren hinter ihn getreten. Wolkenstürmer stand auf und sprach ernst zu den Freunden:
»Meine Späher haben die alte Stadt überflogen und viele Dutzend Minotauren gesehen, die überall in den Ruinen lagern. Es sind fast alles Soldaten, alle schwer bewaffnet«, berichtete der Kyriekrieger. »Das Lager des Oberschamanen liegt fast in der Mitte der Ruinenstadt. Es ist nach oben hin offen, aber gut bewacht. In einem Käfig im Lager des Nachtmeisters wird eine Menschenfrau festgehalten. Im Lager ist einiges los, anscheinend werden Vorbereitungen für irgend etwas getroffen. Meine Späher wagen es nicht, zu nahe heranzufliegen, da sie nicht gesehen werden sollen. Einer meiner Brüder meint, er hätte eine kleine Person herumspringen sehen, weder Mensch noch Minotaurus, aber er ist sich nicht sicher.«
»Der verdammte Kender«, murmelte Flint.
»Was ist mit meinem Bruder?« Caramon sah Wolkenstürmer fragend an.
»Bisher«, erwiderte Wolkenstürmer finster, »gibt es keine Spur von dem Zauberer.«
»Wir wissen also, daß Kit etwa in der Mitte der alten Stadt gefangensitzt«, sagte Tanis. »Wir wissen auch, daß sie gut bewacht ist. Wie viele sind wir jetzt… zwanzig, dreißig?«
Keiner gab voreilig die Antwort. Tanis sah sich in der Gruppe um. Tapfere, aber angespannte Gesichter starrten ihn an. Jedem war klar, daß die Zahlen eindeutig zugunsten der Minotauren sprachen.
Wolkenstürmer zuckte mit den Schultern. »Vielleicht weiß Vogelgeist mehr über das Lager, wenn er zurückkommt«, sagte Wolkenstürmer, um ihnen Mut zu machen. »Er ist nicht nur mein erster Kundschafter, sondern auch ein erstklassiger Stratege, wenn es zum Kampf kommt.«
»Ganz gleich, wie es steht, wir müssen morgen einen Rettungsversuch machen«, sagte Sturm. Die anderen Gefährten stimmten murmelnd zu.