»Meine Verletzung zuerst«, sagte das Ungeheuer. »Dann können wir darüber reden, wer sich uns in einer Schlacht gegen die Minotauren anschließen würde. Die Stiermenschen haben keine Freunde unter den Tieren dieser Insel.« Er schien zu kichern. »Ich allerdings auch nicht.«Um die Wunde des Landhais zu verbinden, mußte Vogelgeist das Tier erst von dem Würgenetz befreien. Dazu zerhackte er den Kriechenden Würger dicht am Stengel und schnitt dann die Schlingarme an so vielen Stellen wie möglich durch. Später benutzte er ein paar von den Stücken, um eine Schlinge herzustellen, in der er das Ungeheuer zum Lager tragen konnte.
Vogelgeist brauchte all seine Kraft, um das Tier anzuheben und mit ihm zu fliegen. Caramon, Tanis, Sturm, Flint und die anderen schauten entsetzt auf, als der Kyrie den Landhai kurz nach Einbruch der Dämmerung in ihrer Mitte absetzte. Obwohl das Tier zahm wirkte, verzog es sich mürrisch an den Rand des Lagers und starrte mißtrauisch in die Wüste hinaus.
Wolkenstürmer begrüßte Vogelgeist. Die beiden Kyrie standen abseits und redeten kurz in ihrer eigenen Sprache miteinander. Dann brachte Wolkenstürmer seinen Freund strahlend zu den anderen.
»Was sollen wir mit so einem Tier?« fragte Caramon.
»Das Minotaurenlager ist gut bewacht. Wir sind zahlenmäßig weit unterlegen. Wir brauchen jeden Verbündeten, den wir finden können«, erklärte Wolkenstürmer. »Es gibt keinen furchtloseren Kämpfer als einen Landhai. Vogelgeist sagt, dieser hier hätte versprochen, andere Tiere dieses Landes herzurufen, damit sie uns helfen. Außerdem hat er von einem Schwarm Bergroche erzählt, die sich eventuell auch unserer Sache anschließen. Ich werde Zwillingsstern losschicken, damit er mit den Rochen redet und sie um Hilfe bittet.«
»Roche!« rief Flint aus. Obwohl Flint ein Hügelzwerg war, kein Bergzwerg, kannte er dennoch den Ruf dieser großen Raubvögel nur zu gut. Sie ähnelten überdimensionalen Adlern und hatten eine Spannweite von bis zu einhundertzwanzig Fuß. Bergzwerge, die in entlegenen Regionen Minen anlegten, wurden mitunter von Rochen angegriffen, die ihre Nester verteidigten.
»Es hat noch nie einen Roch gegeben, der einem Zwerg geholfen hätte – oder umgekehrt«, sagte Flint heftig.
Caramon sah Tanis bittend an. Dieser griff ein, um den Zwerg zu beruhigen. »Wolkenstürmer hat recht – wir brauchen Hilfe. Wenn Vogelgeist einen Landhai fangen kann, dann kann Zwillingsstern vielleicht die Roche für uns zähmen.« Tanis sah die Halbogerin an, die wie gewöhnlich nicht weit von Flint stand. »Kirsig und ich werden unser Möglichstes tun, die Roche von dir und dich von den Rochen fernzuhalten.«
Kirsig, die das Thema Roche und Zwerge sehr ernst nahm, verschränkte die Arme vor der Brust und nickte nachdrücklich.
»Wann können wir damit rechnen, daß unsere ungewöhnlichen Verbündeten sich uns anschließen?« fragte Sturm. Seit seiner Rettung aus der Grube des Untergangs hatte der Solamnier allmählich einen tiefen Respekt vor den Kyrie entwickelt und sah keinen Anlaß, die Weisheit ihres ausgefallenen Plans in Frage zu stellen.
Vogelgeist neigte den Kopf zum Landhai und schien kurze Zeit zu lauschen. »Die Botschaft ist ausgesandt. Morgen früh sollten wir neue Freunde sehen. Am besten warten wir ab. Bis dahin sollten wir schlafen.«
Der Kyrie befolgte seinen eigenen Rat, hockte sich hin, schloß die Augen und schlief beinahe sofort ein. Jedenfalls wirkte es so. Kurz darauf schlug Vogelgeist noch einmal ein Auge auf. »Weckt mich zur Wache, falls nötig«, sagte er noch und schloß wieder die Augen.
»Ich habe mich heute ausgeruht, während ihr auf Kundschaft wart«, stellte Yuril fest. »Ich übernehme die erste Wache und wecke jemanden, wenn ich müde werde.«
Yuril hob eine Decke auf und ging zu einem großen Baum am Rand des Waldes, in dessen Deckung sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Die anderen begannen, sich zu verteilen und bequeme Schlafplätze zu suchen. Einige Kyrie und die übrigen Seeleute von der Castor hatten sich bereits schlafen gelegt.
»Ich, äh, muß noch mein Schwert schärfen und meine anderen Waffen für morgen vorbereiten«, murmelte Caramon vor sich hin. »Ich denke, ich leiste Yuril Gesellschaft.«
Sturm und Tanis wechselten einen Blick. »Denk aber dran, daß einer von euch eigentlich Wache halten sollte«, rief Tanis ihm nach.
In Wirklichkeit machte Caramon sich seit Raistlins Verschwinden am Morgen unablässig Sorgen über den Verbleib seines Zwillingsbruders. Er konnte sich nicht vorstellen, daß er einschlafen würde, selbst wenn er es wollte. Yurils Nähe war allerdings beruhigend.Flint schlief ebenfalls, aber nicht gut. Seine Träume waren vom Rauschen großer Flügel erfüllt, die sich über ihm herabsenkten. Kirsig, die sitzend über den Zwerg wachte, mußte dem Zwerg immer wieder die Decke umlegen, die er fortgeschoben hatte.
Als er am nächsten Morgen schließlich erwachte, sah Flint, daß die Geräusche, die seinen Schlaf gestört hatten, der Wirklichkeit entstammt hatten. Jedoch eher von seltsamen Landtieren als von den Bewohnern der Lüfte.
Am Südwestrand des Lagers stand der Landhai. Dahinter schien der Wüstenboden in der frühen Dämmerung zu wogen. Flint sah näher hin. »Großer Reorx!« rief er aus. Dutzende von riesigen Bodeninsekten, deren Rücken von harten, schwarzen, beweglichen Platten bedeckt war und deren Kopf in einem Paar kleiner, aber sicher wirksamer Kiefer endete, bedeckten den Wüstenboden.
»Horaxe.«
»Was?« fragte Flint den Kyrie, der neben ihm aufgetaucht war.
»Sie leben unterirdisch und werden fast so lang, wie wir groß sind. Sie greifen im Rudel an«, erklärte der Kyrie. »Ich hatte zum Glück noch nie das Pech, in eins hineinzugeraten. Ich habe gehört, sie quetschen einen mit ihren krummen Scheren zu Tode.«
Als er sah, wie Flints Kiefer herunterklappte, fügte der Kyrie hinzu: »Keine Sorge. Sie unterstehen dem Landhai, und der Landhai ist auf unserer Seite – vorläufig.«
»Ihre Scheren sind kräftig, das stimmt«, meldete sich Kirsig zu Wort, die sich zu ihnen gesellt hatte. Die Halbogerin schien über jedes beliebige Thema nützliches Wissen zu besitzen. »Mein Papa hat gesagt, sie könnten wirklich lästig werden, wenn sie einem in die unterirdischen Tunnel geraten. Normalerweise scheuen sie das Sonnenlicht. Ich nehme jedoch an, daß sie es während des Angriffs ein paar Stunden in der Sonne aushalten können.«
Inzwischen waren alle Freunde, die Kyrie und die Seeleute aufgestanden und starrten die seltsame Horde Tiere an – den Landhai, die Horaxrudel und ganz hinten seltsame Felsformationen, die sich bewegten. Flint rieb sich verwundert die Augen.
»Kirsig«, flüsterte er und zupfte die Halbogerin am Ärmel. Flint zeigte hinter die Horaxe.
Die rötlichbraunen Felsen hatten sich wieder bewegt und damit bewiesen, daß sie nicht unbelebte Steine, sondern die knubbelige Haut eines gigantischen Reptils waren. Flint schätzte das gewaltige, schlangenähnliche Tier auf annähernd zweihundert Fuß – von der langen, peitschenartigen Schwanzspitze bis zu seinem pfeilförmigen Maul mit den Reißzähnen. Das Ungetüm schien flach auf dem Boden zu liegen. Die Füße mit den Schwimmhäuten lagen auf beiden Seiten seines Schuppenkörpers.
Was Flint für Höhlen im Fels gehalten hatte, waren tatsächlich die Augenhöhlen des Tiers, die so tief lagen, daß man seine Augen nicht erkennen konnte. Das Monster schlug müßig mit seinem Schwanz über den Boden und köpfte dabei mehrere Felsvorsprünge.
»Das große Hatori, und der Größe nach ein sehr altes«, flüsterte Kirsig. »Auf dieser Insel wird es in den letzten Jahrzehnten wenig zu fressen bekommen haben, und ein hungriges Hatori ist ein hungriger Kämpfer, wie mein Papa immer sagte.«
Der Landhai starrte erst die Kyrie und ihre Freunde an, dann die Armee, die er zusammengerufen hatte. Obwohl keines dieser Raubtiere seine Konkurrenten liebte, mochten sie die Minotauren noch weniger, die in der Welt der Wüste als rücksichtslose, arrogante Antreiber bekannt waren.
Der Landhai hatte ihnen den Plan mitgeteilt, den Vogelgeist und Wolkenstürmer vorgeschlagen hatten. Die Tiere würden einen Tag lang gemeinsam kämpfen, und die Kyrie würden ihnen das verlassene Karthay für tausend Jahre überlassen. Da Kit und wahrscheinlich auch Raistlin in der Ruinenstadt waren, hatten die Wüstenräuber den strengen Befehl, keine Menschen oder andere Rassen anzugreifen, nur Minotauren. Diese konnten sie nach Belieben töten.