Einer der Minotaurensoldaten schleuderte einen Speer, der Wolkenstürmer in den Flügel traf. Mit dem anderen Arm riß der Kyriekrieger die Waffe heraus und stieß sie dann dem Soldaten in den Bauch, der ihm zu nahe gekommen war.
Caramon, der nur ein Schwert hatte, begann angesichts von Toth-Urs ausgezeichnetem, zweihändigen Angriff zurückzuweichen. Plötzlich ging ein überraschter Ausdruck über das Gesicht des Kommandanten. Seine Waffen fielen auf die Erde. Mit einem unwillkürlichen Griff an seinen Rücken fiel der riesige Minotaurus vornüber. Yuril beugte sich hinunter und setzte dem Stiermenschen den Fuß auf den Rücken, um in einer fließenden Bewegung ihr Schwert herauszuziehen. Ungerührt wischte sie es am Boden ab und salutierte Caramon, indem sie es an die Stirn führte.
»Gern zu Diensten«, sagte sie mit flüchtigem Lächeln, bevor sie davonrannte.Als Sturm, Flint und Kirsig durch einen eingestürzten Säulengang liefen, sprang ein Minotaurus, dem es gelungen war, dem Hatori und den Horaxen zu entgehen, auf den Zwerg los. Er wirbelte einen Testo. Flint duckte sich, fiel jedoch hin und stieß sich den Kopf an. Benommen sah der Zwerg zu, wie der Soldat sich mit erhobener Keule breitbeinig über ihn stellte.
Kirsig stieß einen Schrei aus wie von einer Todesfee, warf sich mit ganzem Gewicht auf den Soldaten, wollte ihn umstoßen. Flint kroch zur Seite. Er schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. Beim Blick zurück sah der Zwerg, wie der Minotaurus unter Kirsigs Überraschungsangriff taumelte, sich dann aber fing. Der Stiermann schnappte sich die Halbogerin mit einer Hand, um ihr dann mit der anderen den Schädel einzuschlagen.
Zu spät war Sturm bei dem Minotaurus und bohrte ihm treffsicher das Schwert zwischen die Hörner. Ihre tapfere Gefährtin Kirsig war tot.»Mein Held.«
Vogelgeist, der Tanis trug, hatte die Menschenfrau entdeckt, die in einem nahen Stadtteil an eine zerbrochene Säule gefesselt war. Ein einsamer Minotaurus bewachte sie nach wie vor, doch der Kyrie und der Halbelf machten kurzen Prozeß mit dem hartnäckigen Soldaten.
Da Kitiara vom Ringen mit ihren Fesseln erschöpft und zudem enttäuscht war, weil sie nicht an der Schlacht teilnehmen konnte, die sie in der Ferne wahrgenommen hatte, begrüßte sie Tanis gereizt.
»Du hast die schlechte Angewohnheit, mich zu retten«, sagte sie, als der Halbelf sie losband. Mit großen Augen sah sie Vogelgeist an, der den Blick grinsend erwiderte. »Diesmal habe ich allerdings wohl wirklich ein bißchen Hilfe gebraucht«, fügte sie grollend hinzu.
»Keine Ursache«, erwiderte Tanis. Er wußte, ein ausdrücklicheres Dankeschön würde er von Kitiara Uth Matar niemals bekommen.
In seinen Augen sah Kit ausgehungert und schmutzig aus. Eilig holte Tanis ein Stück Trockenfleisch aus einem Beutel und gab es ihr. Kitiara schlang es hungrig herunter. Als er ihr zusah, wurde sich Tanis trotz ihres halbverhungerten, schmierigen Aussehens erneut ihrer herben Schönheit bewußt.
Caramon kam angerannt und schloß Kitiara ungestüm in die Arme. Sturm war dicht hinter ihm, dann kam Yuril.
»Wo ist Raist?« fragte Caramon.
Vogelgeist schüttelte den Kopf. Tanis fragte zurück: »Wo sind Flint und Kirsig?«
»Die Halbogerin ist tot«, sagte Sturm finster. »Sie ist tapfer im Kampf gefallen. Flint geht es gut.« Er winkte mit dem Arm. »Er ist da drüben und kämpft.«
Kit hatte sich Knöchel und Handgelenke massiert. Sie wirkte bereits munter und voller Tatendrang. Sie zeigte zum Dach der Welt. »Raistlin war hier, aber er hat angeboten, meinen Platz als Opfer des Nachtmeisters einzunehmen. Ich glaube, sie sind da oben. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Die Nacht brach herein. »Aber wie erreichen wir rechtzeitig den Gipfel?«
Wolkenstürmer und die drei anderen Kyrie waren inzwischen gelandet. »Wir können im Nu hinauffliegen«, sagte der Kyriekrieger.
Kit schien zu zweifeln. Tanis versicherte ihr, daß es möglich war.
»Sturm«, befahl Caramon, »such Flint und sag ihm und den anderen, daß wir uns zurückziehen. Überlaßt die Minotauren der Armee der Tiere. Verschwindet aus der Ruinenstadt. Wir treffen uns am Lagerplatz von letzter Nacht.«
»Aber – «, protestierte der Solamnier.
»Keine Zeit. Wir haben nicht genug Kyrie, um alle hochzubringen«, warf Tanis ein, »und jemand muß Flint warnen.«
Sturm nickte und rannte davon.
Wolkenstürmer ergriff Caramon und hob ab. Vogelgeist nahm Tanis. Die anderen beiden Kyrie folgten ihnen mit Yuril und Kitiara.
Sie brausten hoch zum Dach der Welt.
Die wütende Schlacht ließen sie hinter sich. Heute nacht würden der Landhai, das Hatori und die Roche sich sattfressen können.
16
Der Zauber für Sargonnas
Der Legende nach war das Dach der Welt während der Umwälzung zum letzten Mal ausgebrochen. Der vulkanische Todesregen hatte die Stadt Karthay und ihre Bewohner völlig vernichtet. Karthay war seit dieser Zeit unbewohnt gewesen, bis der Nachtmeister und seine Jünger gekommen waren, um ihre geheimen Vorbereitungen zu treffen, damit Sargonnas in die Welt Einzug halten konnte.
Das Dach der Welt stand wie ein riesiger, zerklüfteter Zahn am Rand der Stadt, wo der Berg eine ausgezeichnete Barriere nach Norden und Westen darstellte. Seine Hänge waren von tiefen Schluchten und undurchdringlichen Haufen erstarrter Lava durchzogen. Der Nachtmeister und seine Akolythen hatten Monate damit zugebracht, einen Pfad zum Gipfel zu brechen, einem schwarzen, leblosen Krater.
Aus der Ferne sah es so aus, als wäre die Spitze des Berges abgeschnitten. Unzählige steile Glutkegel übersäten den ungewöhnlich breiten Krater. Überall waren Zeichen vulkanischer Aktivität zu sehen, einschließlich Basaltbrocken, Abdrücken von Baumstämmen und Riesenkreuzkraut, die von inzwischen erstarrter Lava umflossen worden waren. Geysire brodelten. Dampf- und Gasfontänen zischten aus Bodenspalten empor.
Eine ovale Mulde im Krater war größer und lebhafter als die übrigen. Das war das Herz des Vulkans, das von abgekühlter Lava überkrustet war. Sein Zentrum bestand aus einem Felspfropf, der sich tief im Auslaß des Vulkans verhärtet hatte.
Der Nachtmeister glaubte, daß unter der ovalen Vertiefung der eigentliche Vulkankrater lag, dessen Ausbruch dem Einbruch der Spitze ins Zentrum des Berges vorausgegangen war. Und unter dem ursprünglichen Krater wartete wiederum die Feuerfontäne, die die vulkanische Aktivität erneut entfachen konnte. Seit Wochen hatten die Gefolgsleute des Nachtmeisters zusammen mit den Minotaurentruppen daran gearbeitet, die Öffnung freizulegen.
Von seinem Lager an der aschebedeckten Terrasse der einst großartigen Bibliothek der alten Stadt war der Nachtmeister regelmäßig zu einem Bergplateau im Westen von Karthay gewandert, um die Zeichen zu deuten. Der Zauberspruch, der Sargonnas rief, würde hier gewirkt werden, auf dem Gipfel und im Herzen des Vulkans.
Alles war vorbereitet. Die Akolythen und eine ausgewählte Anzahl Minotaurensoldaten lagerten seit Tagen auf dem Gipfel, wo sie das benötigte Labor aufgebaut, die verschiedenen Zutaten – Talismane, Steine und tote Tiere – aufgereiht und die Bücher und Spruchrollen bereitgelegt hatten, die der Nachtmeister brauchen würde, um den Zauber zu sprechen.
Nach langen, arbeitsreichen Stunden war jetzt die Spitze des ursprünglichen Vulkans ausgegraben und der Mund der Feuerfontäne freigelegt. Der Durchmesser der Öffnung betrug rund ein Dutzend Fuß. Tief unten konnte man feurige, orangerote Lava blubbern und brodeln sehen.
Die Soldaten hatten am Rand der Öffnung ein Holzgerüst gebaut. Ein Dutzend Stufen führten zu einer Plattform, von der aus man die Feuerfontäne überblicken konnte.
Die Sterne standen beieinander. Der Tag wich der Nacht.
Alles war bereit, als der Nachtmeister und seine Gruppe den Gipfel erklommen. In seinen zeremoniellen Pelzen und Federn schritt der Nachtmeister mit klingenden Glöckchen stolz auf die ovale Vertiefung zu, die den eigentlichen Krater beherbergte. Er lief zwischen einem Spalier von Akolythen und Soldaten hindurch, die sich aufgestellt hatten, um ihn zu begrüßen.