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Thomas Mann

Zeichnung aus dem Jahre 1939
von Paul Citroen

Thomas Mann Der Zauberberg

Roman

Einführung in den Zauberberg Für Studenten der Universität Princeton Als Vorwort

Gentlemen.

Es ist entschieden ein außerordentlicher Fall, daß bei Ihren lite-rarischen Studien der Autor zugegen ist und mit Ihnen sein Werk betrachtet. Zweifellos hätten Sie es vorgezogen, von Monsieur de Voltaire oder Sefior Cervantes einige persönliche Bemerkungen über ihre berühmten Bücher zu hören. Aber das Gesetz der Zeit und der Zeitgenossenschaft bringt es nun ein-mal mit sich, daß Sie mit mir vorlieb nehmen müssen, mit dem Verfasser des »Zauberbergs«, der nicht wenig verwirrt ist, sein Buch den großen Werken der Weltliteratur als Studienobjekt eingegliedert zu sehen. Die Generosität Ihres verehrten Lehrers hat es nun einmal für richtig gehalten, daß auch ein modernes Werk im Zyklus dieser Stunden gelesen und analysiert werden solle, und wenn ich mich natürlich auch herzlich darüber freue, daß seine Wahl auf eines meiner Bücher gefallen ist, so bilde ich mir nicht ein, daß das eine endgültige Klassifizierung be-deutet. Es bleibt der Nachwelt vorbehalten, darüber zu entschei-den, ob man den »Zauberberg« als ein »Meisterwerk« im Sinn der übrigen klassischen Objekte Ihrer Studien betrachten darf. Immerhin, ein Dokument der europäischen Seelenverfassung und geistigen Problematik im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts wird diese Nachwelt wohl einmal darin sehen, und so mögen Ihnen ein paar Äußerungen des Verfassers über die Entstehung des Buches und über die Erfahrungen, die er da-mit machte, willkommen sein.

Daß ich diese Äußerungen auf Englisch zu machen habe, ist mir ausnahmsweise keine Erschwerung, sondern eine Erleichte-rung. Ich denke dabei gleich an den Helden meiner Erzählung, den jungen Ingenieur Hans Castorp, der am Ende des ersten Bandes der kirgisenäugigen Madame Chauchat eine seltsame Liebeserklärung macht, der er das Schleiergewand einer frem-den Sprache, der französischen, überwerfen kann. Das kommt seiner Schamhaftigkeit zustatten und ermutigt ihn, Dinge zu sa-gen, die er auf Deutsch kaum über die Lippen bringen würde.

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»Parier français«, sagt er, »c'est parier sans parier, en quelque ma-nìere.« Kurzum, es hilft ihm, seine Hemmungen zu überwin-den, - und auch die Hemmungen, die der Autor empfindet, der über sein eigenes Buch sprechen soll, werden gemildert durch das transponierte Sprechen in einer anderen Sprache.

Übrigens sind sie nicht die einzigen, die sich spürbar machen. Es gibt Autoren, deren Namen mit dem eines einzigen großen Werkes verbunden und fast identisch mit ihm sind, deren We-sen in diesem einen Werk vollkommen ausgesprochen ist. Dante - das ist die Divina Commedia. Cervantes - das ist der Don Quixote. Aber es gibt andere - und zu ihnen muß ich mich rechnen - bei denen das einzelne Werk keineswegs diese voll-endete Repräsentativität und Signifikanz besitzt, sondern nur Fragment eines größeren Ganzen ist, des Lebenswerkes, ja des Lebens und der Person selbst, die zwar danach streben, das Ge-setz der Zeit und des Nacheinander aufzuheben, indem sie in jeder Hervorbringung ganz da zu sein versuchen, aber doch nur so, wie der Roman »Der Zauberberg« selbst und auf eigene Hand sich an der Aufhebung der Zeit versucht, nämlich durch das Leitmotiv, die vor- und zurückdeutende magische Formel, die das Mittel ist, seiner inneren Gesamtheit in jedem Augen-blick Präsenz zu verleihen. So hat auch das Lebenswerk als Gan-zes seine Leitmotive, die dem Versuche dienen, Einheit zu schaffen, Einheit fühlbar zu machen und das Ganze im Einzel-werk gegenwärtig zu halten. Aber gerade darum wird man dem einzelnen nicht gerecht, wenn man es gesondert ins Auge faßt, ohne seinen Zusammenhang mit dem Gesamt-Lebenswerk zu beachten und dem Beziehungssystem Rechnung zu tragen, in dem es steht. Es ist zum Beispiel sehr schwer und fast untunlich, über den »Zauberberg« zu sprechen, ohne der Beziehungen zu gedenken, die er - rückwärts - zu meinem Jugendroman »Bud-denbrooks«, zur kritisch-polemischen Abhandlung »Betrachtun-gen eines Unpolitischen« und zum »Tod in Venedig« und -vorwärts - zu den Joseph-Romanen unterhält.

Was ich da sagte, Gentlemen, um die Hemmungen anzudeu-ten, die ich angesichts der Aufgabe empfinde, mich über ein Buch von mir, den »Zauberberg«, zu äußern, führt schon ziem-lich tief hinein in die Struktur dieses Buches und in die Struktur des ganzen künstlerischen Lebensversuches, wovon es ein Teil und Beispiel ist, - tiefer, als ich heute eigentlich zu dringen ver-

suchen darf. Ich tue besser, Ihnen rein historisch-anekdotisch et-was von Konzeption und Entstehung des Romans zu erzählen, wie sie sich aus meinem Leben ergaben.

Im Jahre 1912 - es ist schon nahezu ein Menschenalter her, und wenn man heute Student ist, so war man damals noch gar nicht geboren - war meine Frau an einer - übrigens nicht schweren - Lungenaffektion erkrankt, die sie immerhin nötigte, ein halbes Jahr im Hochgebirge, in einem Sanatorium des Schweizer Kurorts Davos, zu verbringen. Ich blieb unterdessen bei den Kindern in München und in unserem Landhause in Tölz an der Isar; aber im Mai und Juni des Jahres besuchte ich meine Frau dort oben für einige Wochen, und wenn Sie das Ka-pitel am Anfang des »Zauberbergs« lesen, das »Ankunft« über-schrieben ist, wo der Gast Hans Castorp mit seinem kranken Vetter Ziemßen im Restaurant des Sanatoriums zu Abend speist und nicht nur die ersten Kostproben der vorzüglichen Berghof-Küche, sondern auch von der Atmosphäre des Ortes und dem Leben »bei uns hier oben« empfängt, - wenn Sie dieses Kapitel lesen, so haben Sie eine ziemlich genaue Beschreibung unseres Wiedersehens in dieser Sphäre und meiner eigenen wunderli-chen Eindrücke von damals.

Diese so sehr besonderen Eindrücke verstärkten und vertief-ten sich während der drei Wochen, die ich in dem Davoser Krankenmilieu als Gesellschafter meiner Frau verbrachte. Es sind die drei Wochen, die Hans Castorp ursprünglich dort zu verbringen gedenkt, und aus denen für ihn die sieben Märchen-jahre seiner Verzauberung werden. Ich konnte davon wohl erzählen, denn es fehlte nicht viel, so wäre es mir selbst so ergan-gen. Eines seiner Erlebnisse wenigstens - und eigentlich das grundlegende - ist eine genaue Übertragung einer eigenen Er-fahrung des Autors auf seinen Helden: nämlich die Untersu-chung des unbeteiligten Gastes aus dem Flachland, bei der sich ergibt, daß er selber ein Kranker ist.

Ich befand mich etwa zehn Tage dort oben, als ich mir bei feuchtem und kaltem Wetter auf dem Balkon einen lästigen Ka-tarrh der oberen Luftwege zuzog. Da zwei Spezialisten im Hau-se waren, der Chef und sein Assistent, lag nichts näher, als der Ordnung und Sicherheit halber meine Bronchien untersuchen zu lassen, und so schloß ich mich denn meiner Frau an, die gerade zur Untersuchung befohlen war. Der Chef, der, wie Sie

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sich denken können, meinem Hofrat Behrens in Äußerlichkei-ten ein wenig ähnlich sah, beklopfte mich und stellte mit größ-ter Schnelligkeit eine sogenannte Dämpfung, einen kranken Punkt an meiner Lunge fest, die, wenn ich Hans Castorp gewe-sen wäre, vielleicht meinem ganzen Leben eine andere Wen-dung gegeben hätte. Der Arzt versicherte mir, ich würde sehr klug handeln, mich für ein halbes Jahr hier oben in die Kur zu begeben, und wenn ich seinem Rat gefolgt wäre, wer weiß, vielleicht läge ich noch immer dort oben. Ich habe es vorgezo-gen, den »Zauberberg« zu schreiben, worin ich die Eindrücke verwertete, die ich in kurzen drei Wochen dort oben empfing, und die hinreichten, mir von den Gefahren dieses Milieus für junge Leute - und die Tuberkulose ist eine Jugendkrankheit -einen Begriff zu geben. Diese Krankenwelt dort oben ist von einer Geschlossenheit und einer einspinnenden Kraft, die Sie ein wenig gespürt haben werden, indem Sie meinen Roman la-sen. Es ist eine Art von Lebens-Ersatz, der den jungen Men-schen in relativ kurzer Zeit dem wirklichen, aktiven Leben voll-kommen entfremdet. Luxuriös ist oder war alles dort oben, auch der Begriff der Zeit. Bei dieser Art von Kuren handelt es sich stets um viele Monate, die sich oft zu Jahren summieren. Nach einem halben Jahr aber hat der junge Mensch nichts an-deres mehr im Kopf als die Temperatur unter seiner Zunge und den Flirt. Und nach einem zweiten halben Jahr wird er in vie-len Fällen nie wieder etwas anderes im Kopf haben können als dies. Er wird endgültig untauglich für das Leben im Flachland geworden sein. Es handelt oder handelte sich bei diesen Institu-ten um eine typische Erscheinung der Vorkriegszeit, nur denk-bar bei einer noch intakten kapitalistischen Wirtschaftsform. Nur unter jenen Verhältnissen war es möglich, daß die Patien-ten auf Kosten ihrer Familien Jahre lang oder auch ad infinitum dies Leben führen konnten. Es ist heute zu Ende oder so gut wie zu Ende damit. Der »Zauberberg« ist zum Schwanengesang dieser Existenzform geworden, und vielleicht ist es etwas wie ein Gesetz, daß epische Schilderungen eine Lebensform ab-schließen, und daß sie nach ihnen verschwindet. Heute geht die Lungentherapie vorwiegend andere Wege, und die Mehrzahl der schweizerischen Hochgebirgssanatorien ist zu Sporthotels geworden.