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Wir haben hier nicht nur von des jungen Mannes innerem Verhalten während seiner Schulzeit, sondern auch von den dar-auffolgenden Jahren gesprochen, als er seinen bürgerlichen Be-ruf schon gewählt hatte. Was seine Laufbahn durch die Klassen betraf, so mußte er die eine und andere davon sogar repetieren. Im ganzen aber halfen seine Herkunft, die Urbanität seiner Sit-ten und schließlich auch eine hübsche, wenn auch leidenschafts-lose Begabung für Mathematik ihm vorwärts, und als er das

Einjährigenzeugnis hatte, beschloß er, die Schule durchzuma-chen, - hauptsächlich, die Wahrheit zu sagen, weil damit ein ge-wohnter, vorläufiger und unentschiedener Zustand verlängert und Zeit zu der Überlegung gewonnen wurde, was denn Hans Castorp am liebsten werden wollte, denn das wußte er lange nicht recht, wußte es auch in der obersten Klasse noch nicht, und als es sich dann entschied (daß nämlich er sich entschieden hätte, wäre beinah schon zu viel gesagt), fühlte er wohl, daß er sich ebensogut anders hätte entscheiden können.

Aber so viel war ja richtig, daß er an Schiffen immer großes Vergnügen gehabt hatte. Als kleiner Junge hatte er die Blätter seiner Notizbücher mit Bleistiftzeichnungen von Fischkuttern, Gemüseewern und Fünfmastern gefüllt, und als er mit fünfzehn Jahren von einem bevorzugten Platze aus hatte zusehen dürfen, wie der neue Doppelschrauben-Postdampfer »Hansa« bei Blohm & Voß vom Stapel lief, da hatte er in Wasserfarben ein wohlgetroffenes und bis weit ins einzelne genaues Bildnis des schlanken Schiffes ausgeführt, das Konsul Tienappel in sein Pri-vatkontor gehängt hatte, und auf dem namentlich das transpa-rente Glasgrün der rollenden See so liebevoll und geschickt be-handelt war, daß irgend jemand zu Konsul Tienappel gesagt hatte, das sei Talent, und daraus könne ein guter Marinemaler werden, - eine Äußerung, die der Konsul seinem Pflegesohn ruhig wiedererzählen konnte, denn Hans Castorp lachte bloß gutmü-tig darüber und ließ sich auf Überspanntheiten und Hungerlei-derideen auch nicht einen Augenblick ein.

»Viel hast du nicht«, sagte sein Onkel Tienappel manchmal zu ihm. »Mein Geld bekommen im wesentlichen mal James und Peter, das heißt, es bleibt im Geschäft, und Peter bezieht seine Rente. Was dir gehört, liegt ja ganz gut und trägt dir was Sicheres. Aber von Zinsen zu leben, dabei ist heutzutage kein Spaß mehr, wenn man nicht wenigstens fünfmal so viel hat, wie du, und wenn du was vorstellen willst hier in der Stadt und leben, wie du's gewohnt bist, dann mußt du ordentlich zuverdie-nen, das merk' dir lieber, min Söhn.«

Hans Castorp merkte es sich und sah sich nach einem Berufe um, mit dem er vor sich selbst und den Leuten bestehen könnte. Und als er einmal gewählt hatte - es geschah auf Anregung des alten Wilms, in Firma Tunder & Wilms, der nämlich am sonn-abendlichen Whisttisch zu Konsul Tienappel sagte, Hans Ca-

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storp solle doch Schiffbau studieren, das sei eine Idee, und bei ihm eintreten, dann wolle er wohl auf den Jungen ein Auge ha-ben -, da dachte er sehr hoch von seinem Beruf und fand, daß er zwar ein verdammt komplizierter und anstrengender, dafür aber auch ein ausgezeichneter, wichtiger und großartiger Beruf sei und für seine friedliche Person jedenfalls bei weitem dem seines Vetters Ziemßen vorzuziehen, Stiefschwestersohns seiner seligen Mutter, der durchaus Offizier werden wollte. Dabei war Joachim Ziemßen nicht mal ganz fest auf der Brust, aber eben darum mochte ein Freiluft-Beruf, bei dem von geistiger Arbeit und Anspannung kaum ernstlich die Rede sein konnte, denn wohl das Richtige für ihn sein, wie Hans Castorp mit leichter Geringschätzung urteilte. Denn vor der Arbeit hatte er den al-lergrößten Respekt, obwohl ihn persönlich die Arbeit ja leicht ermüdete.

Wir kommen hier auf unsere Andeutungen von früher zu-rück, die nämlich auf die Vermutung zielten, daß Beeinträchti-gungen des persönlichen Lebens durch die Zeit geradezu den physischen Organismus des Menschen zu beeinflussen ver-möchten. Wie hätte Hans Castorp die Arbeit nicht achten sol-len? Es wäre unnatürlich gewesen. Wie alles lag, mußte sie ihm als das unbedingt Achtungswerteste gelten, es gab im Grunde nichts Achtenswertes außer ihr, sie war das Prinzip, vor dem man bestand oder nicht bestand, das Absolutum der Zeit, sie be-antwortete sozusagen sich selbst. Seine Achtung vor ihr war also religiöser und, so viel er wußte, unzweifelhafter Natur. Aber eine andere Frage war, ob er sie liebte; denn das konnte er nicht, so sehr er sie achtete, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie ihm nicht bekam. Angestrengte Arbeit zerrte an seinen Ner-ven, sie erschöpfte ihn bald, und ganz offen gab er zu, daß er ei-gentlich viel mehr die freie Zeit liebe, die unbeschwerte, an der nicht die Bleigewichte der Mühsal hingen, die Zeit, die offen vor einem gelegen hätte, nicht abgeteilt von zähneknirschend zu überwindenden Hindernissen. Dieser Widerstreit in seinem Verhältnis zur Arbeit bedurfte genau genommen der Auflösung. War es möglicherweise so, daß sein Körper sowohl wie sein Geist - zuerst der Geist und durch ihn auch der Körper - zur Arbeit freudiger und nachhaltiger willig gewesen wäre, wenn er im Grunde seiner Seele, dort, wo er selbst nicht Bescheid wußte, an die Arbeit als unbedingten Wert und sich selbst beant-

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wortendes Prinzip zu glauben und sich dabei zu beruhigen ver-mocht hätte? Es wird damit wieder die Frage seiner Mittelmä-ßigkeit oder Mehr-als-Mittelmäßigkeit aufgeworfen, die wir nicht bündig beantworten wollen. Denn wir betrachten uns nicht als Hans Castorps Lobredner und lassen der Vermutung Raum, daß die Arbeit in seinem Leben einfach dem Genuß von Maria Mancini etwas im Wege war. -

Zum militärischen Dienst wurde er seinerseits nicht herange-zogen. Seine innere Natur widerstrebte dem und wußte es zu verhindern. Auch mochte wohl sein, daß Stabsarzt Dr. Eber-ding, der am Harvestehuder Weg verkehrte, von Konsul Tien-appel gesprächsweise gehört hatte, daß der junge Castorp in der Nötigung sich zu bewaffnen eine empfindliche Störung seiner soeben auswärts begonnenen Studien erblicken würde.

Sein Kopf, der langsam und gelassen arbeitete, zumal Hans Castorp die beruhigende Gewohnheit des Porterfrühstücks auch auswärts beibehielt, füllte sich mit analytischer Geometrie, Dif-ferentialrechnung, Mechanik, Projektionslehre und Graphosta-tik, er berechnete geladenes und ungeladenes Deplacement, Sta-bilität, Trimmverlagerung und Metazentrum, wenn es ihm zu-weilen auch sauer wurde. Seine technischen Zeichnungen, diese Spanten-, Wasserlinien- und Längsrisse, waren nicht ganz so gut, wie seine malerische Darstellung der »Hansa« auf hoher See, aber wo es galt, die geistige Anschaulichkeit durch die sinnliche zu unterstützen, Schatten zu tuschen und Querschnitte in munteren Materialfarben anzulegen, tat Hans Castorp es an Geschicklichkeit den meisten zuvor.

Wenn er in den Ferien nach Hause kam, sehr sauber, sehr gut angezogen, mit einem kleinen rotblonden Schnurrbart in seinem schläfrigen jungen Patriziergesicht und offenbar auf dem Wege zu ansehnlichen Lebensstellungen, so sahen die Leute, die sich mit kommunalen Dingen befaßten, auch mit Familien- und Personalverhältnissen gut Bescheid wußten - und das tun die meisten in einem sich selbst regierenden Stadtstaat -, so sahen seine Mitbürger ihn prüfend an, indem sie sich fragten, in wel-che öffentliche Rolle der junge Castorp wohl einmal hinein-wachsen werde. Er hatte ja Überlieferungen, sein Name war alt und gut, und eines Tages, das konnte beinahe nicht fehlen, würde man mit seiner Person als mit einem politischen Faktor zu rechnen haben. Er würde dann in der Bürgerschaft oder dem