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Bürgerausschuß sitzen und Gesetze machen, würde im Ehren-amt an den Sorgen der Souveränität teilnehmen, einer Verwal-tungsabteilung der Finanzdeputation vielleicht oder der für das Bauwesen angehören, und seine Stimme würde gehört und mit-gezählt werden. Man konnte neugierig sein, wie er wohl einmal Partei bekennen würde, der junge Castorp. Äußerlichkeiten mochten täuschen, aber eigentlich sah er ganz so aus, wie man nicht aussah, wenn die Demokraten auf einen rechnen konnten, und die Ähnlichkeit mit dem Großvater war unverkennbar. Vielleicht würde er ihm nacharten, ein Hemmschuh werden, ein konservatives Element? Das war wohl möglich - und ebenso-wohl auch das Gegenteil. Denn schließlich war er ja Ingenieur, ein angehender Schiffsbaumeister, ein Mann des Weltverkehrs und der Technik. Da konnte es sein, daß Hans Castorp unter die Radikalen ging, ein Draufgänger wurde, ein profaner Zerstörer alter Gebäude und landschaftlicher Schönheiten, ungebunden wie ein Jude und pietätlos wie ein Amerikaner, geneigt, den rücksichtslosen Bruch mit würdig Überliefertem einer bedächti-gen Ausbildung natürlicher Lebensbedingungen vorzuziehen und den Staat in wagehalsige Experimente zu stürzen, - das war auch denkbar. Würde er es im Blute haben, daß Ihre Wohlweis-heiten, vor denen der Doppelposten am Rathaus präsentierte, al-les am besten wüßten, oder würde er die Opposition in der Bürgerschaft zu unterstützen gestimmt sein? In seinen blauen Augen unter den rötlich blonden Brauen war keine Antwort auf solche Fragen mitbürgerlicher Neugier zu lesen, und er wußte auch wohl noch gar keine, Hans Castorp, dies unbeschriebene Blatt.

Als er die Reise antrat, auf der wir ihn betrafen, stand er im dreiundzwanzigsten Lebensjahr. Damals hatte er vier Semester Studienzeit am Danziger Polytechnikum hinter sich und vier weitere, die er auf den Technischen Hochschulen von Braunschweig und Karlsruhe verbracht hatte, war kürzlich ohne Glanz und Orchestertusch, aber mit gutem Anstande aus der ersten Hauptprüfung gestiegen und schickte sich an, bei Tunder & Wilms als Ingenieur-Volontär einzutreten, um auf der Werft seine praktische Ausbildung zu empfangen. An diesem Punkt nahm sein Weg nun erst einmal folgende Wendung.

Zur Hauptprüfung hatte er scharf und anhaltend arbeiten müssen und sah, als er heimkam, denn doch noch matter aus, als

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es zu seinem Typus paßte. Dr. Heidekind schalt, so oft er ihn sah, und forderte Luftveränderung, das heißt: eine gründliche. Mit Norderney oder Wyk auf Föhr, sagte er, sei es dieses Mal nicht getan, und wenn man ihn frage, so gehörte Hans Castorp, bevor er auf die Werft gehe, für ein paar Wochen ins Hochge-birge.

Das sei ganz gut, sagte Konsul Tienappel zu seinem Neffen und Pflegesohn, aber dann trennten sich diesen Sommer ihre Wege, denn ihn, Konsul Tienappel, bekämen ins Hochgebirge keine vier Pferde. Das sei nichts für ihn, er brauche einen ver-nünftigen Luftdruck, sonst kriege er Zufälle. Ins Hochgebirge solle Hans Castorp nur freundlichst alleine reisen. Er solle doch Joachim Ziemßen besuchen.

Das war ein natürlicher Vorschlag. Joachim Ziemßen nämlich war krank, - nicht krank wie Hans Castorp, sondern auf wirk-lich mißliche Weise krank, es war sogar ein großer Schrecken gewesen. Schon immer hatte er zu Katarrh und Fieber geneigt, und eines Tages war richtig auch roter Auswurf dagewesen, und Hals über Kopf hatte Joachim nach Davos gehen müssen, zu seinem größten Leidwesen und Kummer, denn eben stand er am Ziel seiner Wünsche. Ein paar Semester lang hatte er nach dem Willen der Seinen Jurisprudenz studiert, aber aus unwider-stehlichem Drange hatte er umgesattelt und sich als Fahnenjun-ker gemeldet und war auch schon angenommen. Und nun saß er seit über fünf Monaten im Internationalen Sanatorium Berghof« (dirigierender Arzt: Hofrat Dr. Behrens) und lang-weilte sich halb zu Tode, wie er auf Postkarten schrieb. Wenn also Hans Castorp denn schon eine Kleinigkeit für sich tun wollte, bevor er bei Tunder & Wilms seinen Posten antrat, so lag nichts näher, als daß er auch dort hinauf fuhr, um seinem ar-men Cousin Gesellschaft zu leisten, - für beide Teile war es das Angenehmste.

Es war hoher Sommer geworden, als er sich zu der Reise ent-schloß. Die letzten Juli-Tage waren schon da. Er fuhr auf drei Wochen.

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Drittes Kapitel

Ehrbare Verfinsterung

Hans Castorp hatte befürchtet, die Zeit zu verschlafen, da er so überaus müde gewesen war, aber er war früher als nötig auf den Beinen und hatte Muße im Überfluß, seinen Morgengewohn-heiten ausführlich nachzukommen, hochzivilisierten Gewohn-heiten, unter denen eine Gummiwanne sowie eine Holzschale mit grüner Lavendelseife nebst zugehörigem Strohpinsel eine Hauptrolle spielten, - und mit den Geschäften der Säuberung und der Körperpflege das andere des Auspackens und Einräu-mens zu verbinden. Während er den versilberten Hobel über seine mit parfümiertem Schaum bedeckten Wangen führte, er-innerte er sich seiner verworrenen Träume und schüttelte nach-sichtig lächelnd, mit dem Überlegenheitsgefühl des im Tages-licht der Vernunft sich rasierenden Menschen den Kopf über so viel Unsinn. Sehr ausgeruht fühlte er sich eben nicht, aber frisch mit dem jungen Tage.

Indes er sich die Hände trocknete, trat er mit gepuderten Bak-ken, in seiner fil d'écosse-Unterhose und roten Saffian-Pantof-feln auf den Balkon hinaus, der durchlief und nur vermittelst undurchsichtiger, nicht ganz bis zum Geländer vortretender Glaswände in einzelne Zimmerbereiche geteilt war. Der Mor-gen war kühl und wolkig. Gestreckte Nebelbänke lagen unbe-weglich vor den seitlichen Höhen, während massiges Gewölk, weißes und graues, auf das fernere Gebirge niederhing. Flecken und Streifen von Himmelsblau waren hie und da sichtbar, und wenn ein Sonnenblick einfiel, schimmerte die Ortschaft im Tal-grunde weiß gegen die dunklen Fichtenwälder der Hänge. Ir-gendwo gab es Morgenmusik, wahrscheinlich in demselben Hotel, wo man auch gestern abend Konzert gehabt hatte. Cho-ral-Akkorde klangen gedämpft herüber, nach einer Pause folgte ein Marsch, und Hans Castorp, der Musik von Herzen liebte, da sie ganz ähnlich auf ihn wirkte, wie sein Frühstücksporter, näm-lich tief beruhigend, betäubend, zum Dösen überredend,

lauschte wohlgefällig, den Kopf auf die Seite geneigt, mit offe-nem Munde und etwas geröteten Augen.

Drunten schlang sich die Wegschleife zum Sanatorium her-auf, die er gestern abend gekommen war. Kurzstieliger, stern-förmiger Enzian stand im feuchten Grase des Abhanges. Ein Teil der Plattform war als Garten eingezäunt; dort gab es Kies-wege, Blumenrabatten und eine künstliche Felsengrotte zu Fü-ßen einer stattlichen Edeltanne. Eine mit Blech gedeckte Halle, in der Liegestühle standen, öffnete sich gegen Süden, und dane-ben war eine rotbraun gestrichene Flaggenstange aufgerichtet, an deren Schnur zuweilen das Fahnentuch sich entfaltete, - eine Phantasiefahne, grün und weiß, mit dem Emblem der Heilkun-de, einem Schlangenstab, in der Mitte.

Eine Frau ging im Garten umher, eine ältere Dame von dü-sterem, ja tragischem Aussehen. Vollständig schwarz gekleidet und um das wirre schwarzgraue Haar einen schwarzen Schleier gewunden, wanderte sie ruhelos und gleichmäßig rasch, mit krummen Knien und steif nach vorn hängenden Armen auf den Pfaden dahin und blickte, Querfalten in der Stirn, mit kohl-schwarzen Augen, unter denen schlaffe Hautsäcke hingen, starr von unten geradeaus. Ihr alterndes, südlich blasses Gesicht mit dem großen, verhärmten, einseitig abwärts gezogenen Mund erinnerte Hans Castorp an das Bild einer berühmten Tragödin, das ihm einmal zu Gesichte gekommen, und unheimlich war es zu sehen, wie die schwarzbleiche Frau, offenbar ohne es zu wis-sen, ihre langen, gramvollen Tritte dem Takt der herüberklin-genden Marschmusik anpaßte.