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»Was ich dich fragen wollte -«, fing er an . . . »Der Fall in meinem Zimmer war also gerade eingegangen, als ich kam. Sind sonst schon viele Todesfälle vorgekommen, seit du hier oben bist?« - »Mehrere sicher«, antwortete Joachim. »Aber sie werden diskret behandelt, verstehst du, man erfährt nichts da-von oder nur gelegentlich, später, es geht im strengsten Ge-heimnis vor sich, wenn einer stirbt, aus Rücksicht auf die Pa-tienten und namentlich auf die Damen, die sonst leicht Zufälle bekämen. Wenn neben dir jemand stirbt, das merkst du gar nicht. Und der Sarg wird in aller Frühe gebracht, wenn du noch schläfst, und abgeholt wird der Betreffende auch nur in solchen Zeiten, zum Beispiel während des Essens.«

»Hm«, sagte Hans Castorp und zeichnete weiter. »Hinter den Kulissen also geht so etwas vor sich.«

»Ja, so kann man sagen. Aber neulich, es ist nun, warte mal, möglicherweise acht Wochen her -«

»Dann kannst du nicht neulich sagen«, bemerkte Hans Castorp trocken und wachsam.

»Wie? Also nicht neulich. Du bist aber genau. Ich habe die Zahl ja nur so geraten. Also vor einiger Zeit, da habe ich doch einmal hinter die Kulissen gesehen, aus reinem Zufall, ich weiß es wie heute. Das war, als sie der kleinen Hujus, einer Katholi-schen, Barbara Hujus, das Viatikum brachten, das Sterbesakra-ment, weißt du, die Letzte Ölung. Sie war noch auf, als ich hier ankam, und ausgelassen lustig konnte sie sein, so dalberig, recht wie ein Backfisch. Aber dann ging es rapide mit ihr, sie stand nicht mehr auf, drei Zimmer von meinem lag sie, und ihre El-tern kamen, und nun kam denn also der Priester. Er kam, während alles beim Tee war, nachmittags, es war kein Mensch auf

den Gängen. Aber stelle dir vor, ich hatte verschlafen, ich war in der Hauptliegekur eingeschlafen und hatte das Gong überhört lind mich um eine Viertelstunde verspätet. Da war ich nun im entscheidenden Augenblick nicht, wo alle waren, sondern war hinter die Kulissen geraten, wie du sagtest, und wie ich über den Korridor gehe, da kommen sie mir entgegen, in Spitzen-hemden und ein Kreuz voran, ein goldenes Kreuz mit Laternen, der eine trug es voran wie den Schellenbaum vor der Janitscha-renmusik.«

»Das ist kein Vergleich«, sagte Hans Castorp nicht ohne Strenge.

»Es kam mir so vor. Ich wurde unwillkürlich daran erinnert. Aber höre nur weiter. Sie kommen also auf mich zu, marsch, marsch, im Geschwindschritt, zu dritt, wenn ich nicht irre, vor-an der Mann mit dem Kreuz, darauf der Geistliche, eine Brille auf der Nase, und dann noch ein Junge mit einem Räucherfäß-chen. Der Geistliche hielt das Viatikum an der Brust, es war zu-gedeckt, und er hielt recht demütig den Kopf schief, es ist ja ihr A I Irrheiligstes.«

»Eben üben darum«, sagte Hans Castorp. »Eben aus diesem G r u n d e wundere ich mich, daß du von Schellenbaum sprechen magst.«

»Ja, ja. Aber warte nur, wenn du dabei gewesen wärst, wüß-test du auch nicht, was du für ein Gesicht machen solltest in der Erinnerung. Es war, daß man davon träumen könnte -«

»In welcher Hinsicht?«

»Folgendermaßen. Ich frage mich also, wie ich mich zu ver-halten habe unter diesen Umständen. Einen Hut zum Abneh-men hatte ich nicht auf-«

»Siehst du wohl!« unterbrach ihn Hans Castorp rasch noch einmal. »Siehst du wohl, daß man einen Hut aufhaben soll! Es ist mir natürlich aufgefallen, daß ihr keinen tragt hier oben. Mm soll aber einen aufsetzen, damit man ihn abnehmen kann, bei Gelegenheiten, wo es sich schickt. Aber was denn nun wei-

ter?«

»Ich stellte mich an die Wand«, sagte Joachim, »in anständi-gen Haltung, und verbeugte mich etwas, als sie bei mir waren, -es war gerade vor dem Zimmer der kleinen Hujus, Nummer achthundzwanzig. Ich glaube, der Geistliche freute sich, daß ich grüßte; er dankte sehr höflich und nahm seine Kappe ab. Aber zugleich machen sie auch schon halt, und der Ministrantenjunge

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mit dem Räucherfaß klopft an, und dann klinkt er auf und läßt seinem Chef den Vortritt ins Zimmer. Und nun stelle dir vor und male dir meinen Schrecken aus und meine Empfindungen! In dem Augenblick, wo der Priester den Fuß über die Schwelle setzt, geht da drinnen ein Zetermordio an, ein Gekreisch, du hast nie so etwas gehört, drei-, viermal hintereinander, und da-nach ein Schreien ohne Pause und Absatz, aus weit offenem Munde offenbar, ahhh, es lag ein Jammer darin und ein Entset-zen und Widerspruch, daß es nicht zu beschreiben ist, und so ein greuliches Betteln war es auch zwischendurch, und auf einen Schlag wird es hohl und dumpf, als ob es in die Erde versunken wäre und tief aus dem Keller käme.«

Hans Castorp hatte sich seinem Vetter heftig zugewandt. »War das die Hujus?« fragte er aufgebracht. »Und wieso: aus dem Keller?«

»Sie war unter die Decke gekrochen!« sagte Joachim. »Stelle dir meine Empfindungen vor! Der Geistliche stand dicht an der Schwelle und sagte beruhigende Worte, ich sehe ihn noch, er schob immer den Kopf dabei vor und zog ihn dann wieder zu-rück. Der Kreuzträger und der Ministrant standen noch zwi-schen Tür und Angel und konnten nicht eintreten. Und ich konnte zwischen ihnen hindurch ins Zimmer sehen. Es ist ja ein Zimmer wie deins und meins, das Bett steht links von der Tür an der Seitenwand, und am Kopfende standen Leute, die Ange-hörigen natürlich, die Eltern und redeten auch beschwichtigend auf das Bett hinunter, man sah nichts als eine formlose Masse darin, die bettelte und grauenhaft protestierte und mit den Bei-nen strampelte.«

»Sagst du, daß sie mit den Beinen strampelte?«

»Aus Leibeskräften! Aber es nützte ihr nichts, das Sterbesa-krament mußte sie haben. Der Pfarrer ging auf sie zu, und auch die beiden anderen traten ein, und die Tür wurde zugezogen. Aber vorher sah ich noch: der Kopf von der Hujus kommt für eine Sekunde zum Vorschein, mit wirrem hellblonden Haar, und starrt den Priester mit weitaufgerissenen Augen an, so blas-sen Augen, ganz ohne Farbe, und fährt mit Ah und Huh wieder unters Laken.«

»Und das erzählst du mir jetzt erst?« sagte Hans Castorp nach einer Pause. »Ich verstehe nicht, daß du nicht schon gestern abend darauf zu sprechen gekommen bist. Aber, mein Gott, sie

mußte doch noch eine Menge Kraft haben, so wie sie sich wehrte. Dazu gehören doch Kräfte. Man sollte den Priester nicht holen lassen, bevor einer ganz schwach ist.«

»Sie war auch schwach«, erwiderte Joachim. » . . . Ach, zu er-zählen gäbe es viel; es ist schwer, die erste Auswahl zu tref-fen . . . Schwach war sie schon, es war nur die Angst, die ihr so-viel Kräfte gab. Sie ängstigte sich eben fürchterlich, weil sie merkte, daß sie sterben sollte. Sie war ja ein junges Mädchen, da muß man es schließlich entschuldigen. Aber auch Männer füh-ren sich manchmal so auf, was natürlich eine unverzeihliche Schlappheit ist. Behrens weiß übrigens mit ihnen umzugehen, er hat den richtigen Ton in solchen Fällen.«

»Was für einen Ton?« fragte Hans Castorp mit zusammenge-zogenen Brauen.

»»Stellen Sie sich nicht so an!‹ sagt er«, antwortete Joachim. »Wenigstens hat er es neulich zu einem gesagt, - wir wissen es von der Oberin, die dabei war und den Sterbenden festhalten half. Es war so einer, der zu guter Letzt eine scheußliche Szene machte und absolut nicht sterben wollte. Da hat Behrens ihn angefahren: ›Stellen Sie sich gefälligst nicht so an!‹ hat er gesagt, und sofort ist der Patient still geworden und ist ganz ruhig gestorben.«

Hans Castorp schlug sich mit der Hand auf den Schenkel und warf sich gegen die Rückenlehne der Bank, indem er zum Him-mel aufblickte.