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»Na, höre mal, das ist doch stark!« rief er. »Fährt auf ihn los und sagt einfach zu ihm: ›Stellen Sie sich nicht so an!‹ Zu einem Sterbenden! Das ist doch stark! Ein Sterbender ist doch ge-wissermaßen ehrwürdig. Man kann ihn doch nicht so mir nichts, dir nichts . . . Ein Sterbender ist doch sozusagen heilig, sollte ich meinen!«

»Das will ich nicht leugnen«, sagte Joachim. »Aber wenn er sich nun doch dermaßen schlapp benimmt . . .«

»Nein!« beharrte Hans Castorp mit einer Heftigkeit, die zu dem Widerstand, den man ihm leistete, in keinem Verhältnis stand. »Das lasse ich mir nicht ausreden, daß ein Sterbender etwas Vornehmeres ist, als irgend so ein Lümmel, der herumgeht und lacht und Geld verdient und sich den Bauch vollschlägt! Das geht nicht -« und seine Stimme schwankte höchst sonder-bar. »Das geht nicht, daß man ihn so mir nichts, dir nichts -«,

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und seine Worte erstickten im Lachen, das ihn ergriff und ihn überwältigte, dem Lachen von gestern, einem tief heraufquel-lenden, leiberschütternden, grenzenlosen Gelächter, das ihm die Augen schloß und Tränen zwischen den Lidern hervorpreßte.

»Pst!« machte Joachim plötzlich. »Sei still!« flüsterte er und stieß den haltlos Lachenden heimlich in die Seite. Hans Castorp blickte in Tränen auf.

Auf dem Wege von links kam ein Fremder daher, ein zierli-cher brünetter Herr mit schön gedrehtem schwarzen Schnurr-bart und in hellkariertem Beinkleid, der, herangekommen, mit Joachim einen Morgengruß tauschte - der seine war präzis und wohllautend - und mit gekreuzten Füßen, auf seinen Stock ge-stützt, in anmutiger Haltung vor ihm stehen blieb.

Satana

Sein Alter wäre schwer zu schätzen gewesen, zwischen dreißig und vierzig mußte es wohl liegen, denn wenn auch seine Ge-samterscheinung jugendlich wirkte, so war sein Haupthaar doch an den Schläfen schon silbrig durchsetzt und weiter oben merk-lich gelichtet: zwei kahle Buchten sprangen neben dem schma-len, spärlichen Scheitel ein und erhöhten die Stirn. Sein Anzug, diese weiten, hellgelblich karierten Hosen und ein flausartiger, zu langer Rock mit zwei Reihen Knöpfen und sehr großen Auf-schlägen, war weit entfernt, Anspruch auf Eleganz zu erheben; auch zeigte sein rund umgebogener Stehkragen sich von häufi-ger Wäsche an den Kanten schon etwas aufgerauht, seine schwarze Krawatte war abgenutzt, und Manschetten trug er of-fenbar überhaupt nicht, - Hans Castorp erkannte es an der schlaffen Art, in der die Ärmel ihm um das Handgelenk hingen. Trotzdem sah er wohl, daß er einen Herrn vor sich habe; der gebildete Gesichtsausdruck des Fremden, seine freie, ja schöne Haltung ließen keinen Zweifel daran. Diese Mischung aber von Schäbigkeit und Anmut, schwarze Augen, dazu der weich ge-schwungene Schnurrbart, erinnerten Hans Castorp sogleich an gewisse ausländische Musikanten, die zur Weihnachtszeit in den heimischen Höfen aufspielten und mit emporgerichteten Samt-augen ihren Schlapphut hinhielten, damit man ihnen

Zehnpfennigstücke aus den Fenstern hineinwürfe. ›Ein Drehor-gelmann!‹ dachte er. Und so wunderte er sich nicht über den Namen, den er zu hören bekam, als Joachim sich von der Bank erhob und in einiger Befangenheit vorstellte: »Mein Vetter Castorp, - Herr Settembrini.«

Hans Castorp war ebenfalls zur Begrüßung aufgestanden, die Spuren seiner Heiterkeitsausschreitung noch im Gesicht. Aber der Italiener bat beide in höflichen Worten, sich nicht in ihrer Bequemlichkeit stören zu lassen und nötigte sie auf ihre Plätze zurück, während er selbst in seiner angenehmen Pose vor ihnen stehen blieb. Er lächelte, wie er da stand und die Vettern, na-mentlich aber Hans Castorp, betrachtete, und diese seine etwas spöttische Vertiefung und Kräuselung seines einen Mundwin-kels unter dem vollen Schnurrbart, dort, wo er sich in schöner Rundung aufwärts bog, war von eigentümlicher Wirkung, es hielt gewissermaßen zur Geistesklarheit und Wachsamkeit an und ernüchterte den trunkenen Hans Castorp im Augenblick, so daß er sich schämte. Settembrini sagte:

»Die Herren sind aufgeräumt, - mit Grund, mit Grund. Ein prächtiger Morgen! Der Himmel ist blau, die Sonne lacht -«, und er hob mit einem leichten und gelungenen Schwung seines «Annes die kleine, gelbliche Hand zum Himmel, während er zugleich einen schrägen, heiteren Blick ebenfalls dort hinauf-sandte. »Man könnte in der Tat vergessen, wo man sich be-findet.«

Er sprach ohne fremden Akzent, nur an der Genauigkeit seiner Lautbildung hätte man allenfalls den Ausländer erkennen können. Seine Lippen formten die Worte mit einer gewissen Lust. Man hörte ihn mit Vergnügen.

»Und der Herr hat eine angenehme Reise zu uns gehabt?« wandte er sich an Castorp . . . »Ist man schon im Besitz seines Urteils? Ich meine: hat die düstere Zeremonie der ersten Unter-suchung schon stattgehabt?« - Hier hätte er schweigen und war-ten müssen, wenn es ihm darauf ankam, zu hören; denn er hatte seine Frage gestellt, und Hans Castorp schickte sich an, zu ant-worten. Aber der Fremde fragte gleich weiter: »Ist sie glimpflich verlaufen? Aus Ihrer Lachlust -«, und er schwieg einen Augenblick, indes die Kräuselung seines Mundwinkels sich vertiefte, »lassen sich ungleichartige Schlüsse ziehen. Wieviel Monate ha-ben unsere Minos und Rhadamanth Ihnen aufgebrummt?« -

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Das Wort »aufgebrummt« nahm sich in seinem Munde beson-ders drollig aus. - »Soll ich schätzen? Sechs? Oder gleich neun? Man ist ja nicht knauserig . . .«

Hans Castorp lachte erstaunt, wobei er sich zu erinnern such-te, wer Minos und Rhadamanth doch gleich noch gewesen seien. Er antwortete:

»Aber wieso. Nein, Sie sind im Irrtum, Herr Septem -« »Settembrini«, verbesserte der Italiener klar und mit Schwung, indem er sich humoristisch verneigte.

»Herr Settembrini, - Verzeihung. Nein, also Sie irren. Ich bin gar nicht krank. Ich besuche nur meinen Vetter Ziemßen auf ein paar Wochen und will mich bei dieser Gelegenheit auch ein bißchen erholen -«

»Potztausend, Sie sind nicht von den Unsrigen? Sie sind ge-sund, Sie hospitieren hier nur, wie Odysseus im Schattenreich? Welche Kühnheit, hinab in die Tiefe zu steigen, wo Tote nichtig und sinnlos wohnen -«

»In die Tiefe, Herr Settembrini? Da muß ich doch bitten! Ich bin ja rund fünftausend Fuß hoch geklettert zu Ihnen her-auf -«

»Das schien Ihnen nur so! Auf mein Wort, das war Täu-schung«, sagte der Italiener mit einer entscheidenden Handbe-wegung. »Wir sind tief gesunkene Wesen, nicht wahr, Leut-nant«, wandte er sich an Joachim, der sich über diese Anrede nicht wenig freute, dies aber zu verbergen suchte und besonnen erwiderte:

»Wir sind wohl wirklich etwas versimpelt. Aber man kann sich schließlich wieder zusammenreißen.«

»Ja, Ihnen traue ich's zu; Sie sind ein anständiger Mensch«, sagte Settembrini. »So, so, so«, sagte er dreimal mit scharfem S, indem er sich wieder gegen Hans Castorp wandte, und schnalz-te dann ebensooft mit der Zunge leise am oberen Gau-men. »Sieh, sieh, sieh«, sagte er hierauf, ebenfalls dreimal und mit scharfem S-Laut, indem er dem Neuling so unverwandt ins Auge blickte, daß seine Augen in eine fixe und blinde Ein-stellung gerieten, und fuhr dann, seinen Blick wieder belebend, fort:

»Ganz freiwillig kommen Sie also herauf zu uns Herunterge-kommenen und wollen uns einige Zeit das Vergnügen Ihrer Gesellschaft gönnen. Nun, das ist schön. Und welche Frist ha-

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ben Sie in Aussicht genommen? Ich frage nicht fein. Aber es soll mich doch wundernehmen, zu hören, wieviel man sich zu-diktiert, wenn man selbst zu bestimmen hat und nicht Rhadamanth!«

»Drei Wochen«, sagte Hans Castorp mit etwas eitler Leich-tigkeit, da er merkte, daß er beneidet wurde.