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»Mit Vornamen heißt sie Adriatica.«

»Auch das noch?« rief Hans Castorp . . . »Hören Sie, das ist merkwürdig! Von Mylendonk und dann Adriatica, es klingt, als müßte sie längst gestorben sein. Geradezu mittelalterlich mutet es an.«

»Mein geehrter Herr«, antwortete Settembrini, »hier gibt es manches, was ›mittelalterlich anmutet‹, wie Sie sich auszudrük-ken belieben. Ich für meine Person bin überzeugt, daß unser Rhadamanth einzig und allein aus künstlerischem Stilgefühl dieses Petrefakt zur Oberaufseherin seines Schreckenspalastes gemacht hat. Er ist nämlich Künstler, - das wissen Sie nicht? Er malt in Öl. Was wollen Sie, das ist nicht verboten, nicht wahr, es steht jedem frei . . . Frau Adriatica sagt es jedem, der es hören will, und den andern auch, daß eine Mylendonk Mitte des drei-zehnten Jahrhunderts Äbtissin eines Stiftes zu Bonn am Rheine

war. Sie selbst kann nicht lange nach diesem Zeitpunkt das Licht der Welt erblickt haben . . .«

»Ha, ha, ha! Ich finde Sie aber spöttisch, Herr Settembrini.«

»Spöttisch? Sie meinen: boshaft. Ja, boshaft bin ich ein wenig -«, sagte Settembrini. »Mein Kummer ist, daß ich verurteilt bin, meine Bosheit an so elende Gegenstände zu verschwenden. Ich hoffe, Sie haben nichts gegen die Bosheit, Ingenieur? In meinen Augen ist sie die glänzendste Waffe der Vernunft gegen die Mächte der Finsternis und der Häßlichkeit. Bosheit, mein Herr, ist der Geist der Kritik, und Kritik bedeutet den Ursprung des Fortschrittes und der Aufklärung.« Und im Nu begann er von Petrarca zu reden, den er den »Vater der Neuzeit« nannte.

»Wir müssen nun aber in die Liegekur«, sagte Joachim be-sonnen.

Der Literat hatte seine Worte mit anmutigen Handbewegun-gen begleitet. Nun rundete er dies Gestenspiel mit einer Gebär-de ab, die auf Joachim hinwies, und sagte:

»Unser Leutnant treibt zum Dienst: Gehen wir also. Wir ha--en den gleichen Weg, - ›rechtshin, welcher zu Dis, des Gewal-en, Mauern hinanstrebt‹. Ah, Virgil, Virgil! Meine Herren, er ist unübertroffen. Ich glaube an den Fortschritt, gewiß. Aber Virgil verfügt über Beiwörter, wie kein Moderner sie hat . . .« I lud während sie sich auf den Heimweg machten, fing er an, la-teinische Verse in italienischer Aussprache vorzutragen, unter-brach sich jedoch, als irgendein junges Mädchen, eine Tochter des Städtchens, wie es schien, und durchaus nicht sonderlich hübsch, ihnen entgegenkam, und verlegte sich auf ein schwere-nöterhaftes Lächeln und Trällern. »T, t, t«, schnalzte er. »Ei, ei, ei! La, la la! Du süßes Käferchen, willst du die Meine sein? Seht doch, ›es funkelt ihr Auge in schlüpfrigem Licht‹«, zitierte er -Gott wußte, was es war - und sandte dem verlegenen Rücken des Mädchens eine Kußhand nach.

Das ist ja ein rechter Windbeutel, dachte Hans Castorp, und dabei blieb er auch, als Settembrini nach seiner galanten An-wandlung wieder zu medisieren begann. Hauptsächlich hatte er es auf Hofrat Behrens abgesehen, stichelte auf den Umfang seiner Füße und hielt sich bei seinem Titel auf, den er von einem an Gehirntuberkulose leidenden Prinzen erhalten habe. Von dem skandalösen Lebenswandel dieses Prinzen spreche noch heute die ganze Gegend, aber Rhadamanth habe ein Auge zuge-

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drückt, beide Augen, jeder Zoll ein Hofrat. Ob die Herren übri-gens wüßten, daß er der Erfinder der Sommersaison sei? Ja, er und kein anderer. Dem Verdienste seine Krone. Früher hätten im Sommer nur die Treuesten der Treuen in diesem Tale ausge-harrt. Da habe »unser Humorist« mit unbestechlichem Scharf-blick erkannt, daß dieser Mißstand nichts als die Frucht eines Vorurteils sei. Er habe die Lehre aufgestellt, daß, wenigstens so-weit sein Institut in Frage komme, die sommerliche Kur nicht nur nicht weniger empfehlenswert, sondern sogar besonders wirksam und geradezu unentbehrlich sei. Und er habe dieses Theorem unter die Leute zu bringen gewußt, habe populäre Ar-tikel darüber verfaßt und sie in die Presse lanciert. Seitdem gehe das Geschäft im Sommer so flott wie im Winter. »Genie!« sagte Settembrini. »In-tu-i-tion!« sagte er. Und dann hechelte er die übrigen Heilanstalten des Platzes durch und lobte auf beißende Art den Erwerbssinn ihrer Inhaber. Da sei Professor Kafka . . . Alljährlich, zur kritischen Zeit der Schneeschmelze, wenn viele Patienten abzureisen verlangten, finde Professor Kafka sich ge-zwungen, rasch noch auf acht Tage zu verreisen, wobei er ver-spreche, nach seiner Rückkehr die Entlassung vorzunehmen. Dann aber bleibe er sechs Wochen aus, und die Ärmsten warte-ten, wobei sich, am Rande bemerkt, ihre Rechnungen vergrö-ßerten. Bis nach Fiume lasse man Kafka kommen, bevor man fünftausend gute Schweizer Franken sichergestellt, worüber vierzehn Tage vergingen. Einen Tag nach der Ankunft des Cele-brissimo sterbe alsdann der Kranke. Was Doktor Salzmann be-treffe, so sage er dem Professor Kafka nach, daß er seine Sprit-zen nicht rein genug halte und den Kranken Mischinfektionen beibringe. Er fahre auf Gummi, sagte Salzmann, damit seine To-ten ihn nicht hörten, - wogegen wiederum Kafka behaupte, bei Salzmann werde den Patienten »des Rebstocks erheiternde Ga-be« in solchen Mengen aufgenötigt - nämlich ebenfalls behufs Abrundung ihrer Rechnungen -, daß die Leute wie die Fliegen stürben, und zwar nicht an Phthise, sondern an Trinkerleber . . .

So ging es weiter, und Hans Castorp lachte herzlich und gut-mütig über diesen Sturzbach zungenfertiger Lästerungen. Die Suade des Italieners lautete eigentümlich angenehm in ihrer un-bedingten, von jeder Mundart freien Reinheit und Richtigkeit. Die Worte kamen prall, nett und wie neugeschaffen von seinen beweglichen Lippen, er genoß die gebildeten, bissig behenden

Wendungen und Formen, deren er sich bediente, ja selbst die grammatische Beugung und Abwandlung der Wörter mit einem offensichtlichen, sich mitteilenden und heiter stimmenden Be--agen und schien viel zu klaren und gegenwärtigen Geistes, um sich auch nur ein einziges Mal zu versprechen.

»Sie sprechen so drollig, Herr Settembrini«, sagte Hans Castorp, »so lebhaft, - ich weiß nicht, wie ich es nennen soll.«

»Plastisch, wie?« entgegnete der Italiener und fächelte sich mit dem Taschentuch, obgleich es ja eher kühl war. »Das wird das Wort sein, das Sie suchen. Ich habe eine plastische Art zu sprechen, wollen Sie sagen. Aber halt!« rief er. »Was sehe ich! Dort wandeln unsere Höllenrichter! Welch ein An-blick!«

Die Spaziergänger hatten die Wegbiegung schon wieder zu-rückgelegt. War es den Reden Settembrinis, dem Gefälle der Straße zu danken, oder hatten sie sich in Wahrheit weniger weit vom Sanatorium entfernt, als Hans Castorp geglaubt hatte, -denn ein Weg, den wir zum ersten Male gehen, ist bedeutend länger als derselbe, wenn wir ihn schon kennen -: jedenfalls war der Rückmarsch überraschend geschwind vonstatten gegan-gen. Settembrini hatte recht, es war das Ärztepaar, das dort un-len auf dem freien Platz die Rückseite des Sanatoriums entlang-strebte, voran der Hofrat im weißen Kittel, mit heraustretendem Genick und die Hände wie Ruder bewegend, auf seiner Fährte Dr. Krokowski im schwarzen Oberhemd und desto selbstbe-wußter um sich blickend, als der klinische Brauch ihn nötigte, sich auf Dienstgängen hinter dem Chef zu halten.

»Ah, Krokowski!« rief Settembrini. »Dort geht er und weiß alle Geheimnisse unserer Damen. Man bittet, die feine Symbo-lik seiner Kleidung zu beachten. Er trägt sich schwarz, um anzu-deuten, daß sein eigenstes Studiengebiet die Nacht ist. Dieser Mann hat in seinem Kopf nur einen Gedanken, und der ist schmutzig. Ingenieur, wie kommt es, daß wir von ihm noch gar nicht gesprochen haben! Sie haben seine Bekanntschaft ge-macht?«

Hans Castorp bejahte.

»Nun, und? Ich fange an zu vermuten, daß auch er Ihnen ge-fallen hat?«

»Ich weiß wirklich nicht, Herr Settembrini. Ich bin ihm nur erst flüchtig begegnet. Und dann bin ich auch nicht sehr rasch