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von Urteil. Ich sehe mir die Leute an und denke: So bist du also? Nun gut.«
»Das ist Dumpfsinn!« antwortete der Italiener. »Urteilen Sie! Dafür hat die Natur Ihnen Augen und Verstand gegeben. Sie fanden, ich spräche boshaft; aber wenn ich es tat, so geschah es vielleicht nicht ohne pädagogische Absicht. Wir Humanisten haben alle eine pädagogische Ader . . . Meine Herren, der histo-rische Zusammenhang von Humanismus und Pädagogik be-weist ihren psychologischen. Man soll dem Humanisten das Amt der Erziehung nicht nehmen, - man kann es ihm nicht nehmen, denn nur bei ihm ist die Überlieferung von der Wür-de und Schönheit des Menschen. Einst löste er den Priester ab, der sich in trüben und menschenfeindlichen Zeiten die Führung der Jugend anmaßen durfte. Seitdem, meine Herren, ist schlechterdings kein neuer Erziehertyp mehr entstanden. Das humanistische Gymnasium, - nennen Sie mich rückschrittlich, Ingenieur, aber grundsätzlich, in abstracto, ich bitte, mich wohl zu verstehen, bleibe ich sein Anhänger . . .«
Noch im Lift führte er dies weiter aus und verstummte erst, als die Vettern im zweiten Stockwerk den Aufzug verließen. Er selber fuhr bis zum dritten weiter, wo er, wie Joachim erzählte, ein kleines Zimmer nach hinten hinaus bewohnte.
»Er hat wohl kein Geld?« fragte Hans Castorp, der Joachim begleitete. Es sah bei Joachim genau so aus wie drüben bei ihm.
»Nein«, sagte Joachim, »das hat er wohl nicht. Oder doch nur gerade so viel, um den Aufenthalt hier bestreiten zu können. Sein Vater war auch schon Literat, weißt du, und ich glaube, der Großvater auch.«
»Ja, dann«, sagte Hans Castorp. »Ist er denn eigentlich ernst-haft krank?«
»Es ist nicht gefährlich, soviel ich weiß, aber hartnäckig und kommt immer wieder. Er hat es schon seit Jahren und war zwi-schendurch mal fort, mußte aber bald wieder einrücken.«
»Armer Kerl! Wo er doch so fürs Arbeiten zu schwärmen scheint. Riesig gesprächig ist er dabei, so leicht kommt er von einem aufs andere. Mit dem Mädchen war er ja etwas frech, es genierte mich momentan. Aber was er nachher von der mensch-lichen Würde sagte, klang doch famos, ganz wie bei einem Festakt. Bist du denn öfter mit ihm zusammen?«,
Aber Joachim konnte nur noch behindert und undeutlich ant-worten. Er hatte aus einem rotledernen, mit Samt gefütterten Etui, das auf seinem Tische lag, ein kleines Thermometer ge-nommen und das untere, mit Quecksilber gefüllte Ende in den Mund gesteckt. Links unter der Zunge hielt er es, so, daß ihm «las gläserne Instrument schräg aufwärts aus dem Munde her-vorragte. Dann machte er Haustoilette, zog Schuhe und eine li-lewka-artige Joppe an, nahm eine gedruckte Tabelle nebst Blei-stift vom Tisch, ferner ein Buch, eine russische Grammatik -denn er trieb Russisch, weil er, wie er sagte, dienstlichen Vorteil davon erhoffte -, und so ausgerüstet nahm er draußen auf dem Balkon im Liegestuhl Platz, indem er eine Kamelhaardecke nur leicht über die Füße warf
Sie war kaum nötig: schon während der letzten Viertelstunde war die Wolkenschicht dünner und dünner geworden, und die Sonne brach durch, so sommerlich warm und blendend, daß oachim seinen Kopf mit einem weißleinenen Schirm schützte, der vermittelst einer kleinen, sinnreichen Vorrichtung an der Armlehne des Stuhles zu befestigen und dem Stande der Sonne nach zu verstellen war. Hans Castorp lobte diese Erfindung. Er wollte das Ergebnis der Messung abwarten und sah unterdessen zu, wie alles gemacht wurde, betrachtete auch den Pelzsack, der in einem Winkel der Loggia lehnte (Joachim bediente sich seiner an kalten Tagen), und blickte, die Ellenbogen auf der Brü-stung, in den Garten hinab, wo die allgemeine Liegehalle nun von lesend, schreibend und plaudernd ausgestreckten Patienten bevölkert war. Übrigens sah man nur einen Teil des Inneren, et-wa fünf Stühle.
»Aber wie lange dauert denn das?« fragte Hans Castorp und wandte sich um. Joachim hob seinen Finger empor.
»Die müssen doch um sein - sieben Minuten!«
Joachim schüttelte den Kopf Etwas später nahm er das Thermometer aus dem Mund, betrachtete es und sagte dabei:
»Ja, wenn man ihr aufpaßt, der Zeit, dann vergeht sie sehr langsam. Ich habe das Messen, viermal am Tage, ordentlich gern, weil man doch dabei merkt, was das eigentlich ist: eine Minute oder gar ganze sieben, - wo man sich hier die sieben Tage der Woche so gräßlich um die Ohren schlägt.«
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»Du sagst ›eigentlich‹. ›Eigentlich‹ kannst du nicht sagen«, entgegnete Hans Castorp. Er saß mit einem Schenkel auf der Brüstung, und das Weiße seiner Augen war rot geädert. »Die Zeit ist doch überhaupt nicht ›eigentlich‹. Wenn sie einem lang vorkommt, so ist sie lang, und wenn sie einem kurz vorkommt, so ist sie kurz, aber wie lang oder wie kurz sie in Wirklichkeit ist, das weiß doch niemand.« Er war durchaus nicht gewohnt, zu philosophieren und fühlte dennoch den Drang dazu.
Joachim widersprach.
»Wieso denn. Nein. Wir messen sie doch. Wir haben doch Uhren und Kalender, und wenn ein Monat um ist, dann ist er für dich und mich und uns alle um.«
»Dann paß auf«, sagte Hans Castorp und hielt sogar den Zei-gefinger neben seine trüben Augen. »Eine Minute ist also so lang, wie sie dir vorkommt, wenn du dich mißt?«
»Eine Minute ist so lang ... sie dauert so lange, wie der Se-kundenzeiger braucht, um seinen Kreis zu beschreiben.«
»Aber er braucht ja ganz verschieden lange - für unser Ge-fühl! Und tatsächlich . . . ich sage: tatsächlich genommen«, wie-derholte Hans Castorp und drückte den Zeigefinger so fest ge-gen die Nase, daß er ihre Spitze vollständig umbog, »ist das eine Bewegung, eine räumliche Bewegung, nicht wahr? Halt, warte! Wir messen also die Zeit mit dem Raume, aber das ist doch ebenso, als wollten wir den Raum an der Zeit messen, - was doch nur ganz unwissenschaftliche Leute tun. Von Hamburg nach Davos sind zwanzig Stunden, - ja, mit der Eisenbahn. Aber zu Fuß, wie lange ist es da? Und in Gedanken? Keine Se-kunde!«
»Hör mal«, sagte Joachim, »was hast du denn? Ich glaube, es greift dich an hier bei uns?«
»Sei still! Ich bin sehr scharf im Kopf heute. Was ist denn die Zeit?« fragte Hans Castorp und bog seine Nasenspitze so ge-waltsam zur Seite, daß sie weiß und blutleer wurde. »Willst du mir das mal sagen? Den Raum nehmen wir doch mit unseren Organen wahr, mit dem Gesichtssinn und dem Tastsinn. Schön. Aber welches ist denn unser Zeitorgan? Willst du mir das mal eben angeben? Siehst du, da sitzt du fest. Aber wie wollen wir denn etwas messen, wovon wir genaugenommen rein gar nichts, nicht eine einzige Eigenschaft auszusagen wissen! Wir sagen: die Zeit läuft ab. Schön, soll sie also mal ablaufen. Aber
um sie messen zu können . . . warte! Um meßbar zu sein, müßte sie doch gleichmäßig ablaufen, und wo steht denn das geschrie-ben, daß sie das tut? Für unser Bewußtsein tut sie es nicht, wir nehmen es nur der Ordnung halber an, daß sie es tut, und unse-re Maße sind doch bloß Konvention, erlaube mir mal . . .«
»Gut«, sagte Joachim, »dann ist es wohl auch bloß Konvention, daß ich hier vier Striche zuviel habe auf meinem Thermometer! Aber wegen dieser fünf Striche muß ich mich hier her-umräkeln und kann nicht Dienst machen, das ist eine ekelhafte Tatsache!«
»Hast.du 37,5?«
»Es geht schon wieder herunter.« Und Joachim machte die Eintragung in seine Tabelle. »Gestern abend waren es fast 38, das machte deine Ankunft. Alle, die Besuch bekommen, haben Erhöhung. Aber es ist doch eine Wohltat.«
»Ich gehe ja nun auch«, sagte Hans Castorp. »Ich habe noch eine Menge Gedanken über die Zeit im Kopf, - es ist ein ganzer Komplex, kann ich wohl sagen. Aber ich will dich jetzt nicht damit aufregen, da du sowieso zuviel Striche hast. Ich werde es schon alles behalten, und wir können später darauf zurückkom-men, vielleicht nach dem Frühstück. Wenn es Frühstückszeit ist, rufst du mich wohl. Ich gehe jetzt auch in die Liegekur, es tut ja nicht weh, gottlob.« Und damit ging er an der gläsernen Schei-dewand vorbei in seine eigene Loge hinüber, wo gleichfalls ein Liegestuhl nebst Tischchen aufgeschlagen war, holte sich Ocean steamships« und sein schönes, weiches, dunkelrot und grün gewürfeltes Plaid aus dem reinlich aufgeräumten Zimmer und ließ sich nieder.