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Auch er mußte sehr bald den Schirm aufspannen; sowie man

lüg, wurde der Sonnenbrand unerträglich. Man lag aber ganz

Ungewöhnlich bequem, das stellte Hans Castorp sogleich mit

Vergnügen fest, - er erinnerte sich nicht, daß ihm je ein so an-

genehmer Liegestuhl vorgekommen sei. Das Gestell, ein wenig

altmodisch in der Form - was aber nur eine Geschmacksspiele-

rei war, denn der Stuhl war offenbarbestand aus rot-

braun poliertem Holz, und eine Matratze mit weichem, kattun-artigem Überzug, eigentlich aus drei hohen Polstern zusam-mengesetzt, reichte vom Fußende bis über die Rückenlehne hinauf Außerdem war vermittelst einer Schnur eine weder zu feste noch zu nachgiebige Nackenrolle mit gesticktem Leinen-

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Überzug daran befestigt, die von besonders wohltuender Wir-kung war. Hans Castorp stützte einen Arm auf die breite, glatte Fläche der Seitenlehne, blinzelte und ruhte, ohne »Ocean steamships« zu seiner Unterhaltung in Anspruch zu nehmen. Durch die Bögen der Loggia gesehen, wirkte die harte und kar-ge, aber hell besonnte Landschaft draußen gemäldeartig und wie eingerahmt. Hans Castorp betrachtete sie gedankenvoll. Plötz-lich fiel ihm etwas ein, und er sagte laut in die Stille:

»Es war ja eine Zwergin, die uns beim ersten Frühstück be-diente.«

»Pst«, machte Joachim. »Leise doch. Ja, eine Zwergin. Und?«

»Nichts. Wir. hatten uns noch gar nicht darüber ausgespro-chen.«

Und dann träumte er weiter. Es war schon zehn Uhr gewe-sen, als er sich niedergelegt hatte. Eine Stunde verging. Es war eine gewöhnliche Stunde, nicht lang, nicht kurz. Als sie verflos-sen war, tönte ein Gong durch Haus und Garten, erst fern, dann näher, dann wieder fern.

»Frühstück«, sagte Joachim, und man hörte, daß er aufstand.

Auch Hans Castorp beendete für diesmal die Liegekur und ging ins Zimmer, um sich ein wenig zurechtzumachen. Die Vet-tern trafen sich auf dem Korridor und gingen hinunter. Hans Castorp sagte:

»Nun, es lag sich ja ausgezeichnet. Was sind denn das für Stühle? Wenn es die hier zu kaufen gibt, dann nehme ich mir einen mit nach Hamburg, man liegt ja darauf wie im Himmel. Oder meinst du, daß Behrens sie eigens nach seinen Angaben hat anfertigen lassen?«

Joachim wußte es nicht. Sie legten ab und betraten zum zweiten Male den Speisesaal, wo die Mahlzeit schon wieder in vollem Gange war.

Es schimmerte weiß im Saale vor lauter Milch: an jedem Platz stand ein großes Glas, wohl ein halber Liter voll.

»Nein«, sagte Hans Castorp, als er wieder an seinem Tischen-de zwischen der Nähterin und der Engländerin Platz genom-men und ergeben seine Serviette entfaltet hatte, obgleich er noch so schwer belastet vom ersten Frühstück war. »Nein«, sagte er, »Gott steh mir bei, Milch kann ich überhaupt nicht trinken und am wenigsten jetzt. Ist nicht vielleicht Porter da?« Und er wandte sich zuerst höflich und zart an die Zwergin mit dieser

Frage. Leider war keiner da. Aber sie versprach, Kulmbacher Hier zu bringen und brachte es auch. Es war dick, schwarz, braunschaumig und ersetzte den Porter aufs beste. Hans Castorp trank durstig davon aus einem hohen Halbliterglase. Er aß kal-ten Aufschnitt dazu auf Röstbrot. Wieder war Haferbrei aufge-stellt und wieder viel Butter und Obst. Er ließ wenigstens seine Augen darauf ruhen, da er nicht fähig war, sich davon zuzufüh-ren. Auch betrachtete er die Gästeschaft, - die Massen begannen sich für ihn zu teilen; Einzelpersonen traten hervor.

Sein eigener Tisch war komplett, bis auf den oberen Platz ihm gegenüber, welcher, wie er sich belehren ließ, der Doktor-platz war. Denn die Ärzte, wenn ihre Zeit es irgend erlaubte, beteiligten sich an den gemeinsamen Mahlzeiten und wechsel-ten dabei die Tische: an einem jeden war zu oberst ein solcher Doktorplatz freigehalten. Jetzt war keiner von beiden anwe-send; man sagte, sie seien bei einer Operation. Wieder kam der junge Mann mit dem Schnurrbart herein, senkte einmal das Kinn auf die Brust und setzte sich mit sorgenvoll-verschlosse-ner Miene. Wieder saß die Hellblonde, Magere an ihrem Platze und löffelte Yoghurt, als ob dies ihre einzige Speise wäre. Ne-ben ihr saß diesmal eine kleine, muntere alte Dame, die in rus-sischer Zunge auf den stillen jungen Mann einredete, der sie sorgenvoll anblickte und nicht anders als mit Kopfnicken ant-wortete, wobei er jenes Gesicht machte, als habe er etwas Schlechtschmeckendes im Munde. Ihm gegenüber, an der ande-ren Seite der alten Dame, war ein weiteres junges Mädchen pla-ziert, - hübsch war sie, von blühender Gesichtsfarbe und hoher Brust, mit kastanienbraunem, angenehm wellig geordnetem Haar, runden braunen, kindlichen Augen und einem kleinen Rubin an ihrer schönen Hand. Sie lachte viel und sprach eben-falls Russisch, nur Russisch. Sie hieß Marusja, wie Hans Castorp hörte. Ferner bemerkte er beiläufig, daß Joachim mit strengem Ausdruck die Augen niederschlug, wenn sie lachte und sprach.

Settembrini erschien durch den Seiteneingang und schritt schnurrbartkräuselnd zu seinem Platze, der am Ende des Tisches gelegen war, der schräg vor demjenigen Hans Castorps stand. Seine Tischgenossen brachen in schallendes Lachen aus, als er sich niedersetzte; wahrscheinlich hatte er eine Bosheit gesagt. Auch die Mitglieder des »Vereins Halbe Lunge« erkannte Hans Castorp wieder. Hermine Kleefeld schob mit dummen Augen

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zu ihrem Tische dort drüben vor der einen Verandatür und be-grüßte den wulstlippigen Jüngling, der vorhin so unschicklich seine Jacke emporgerafft hatte. Die elfenbeinfarbene Levi saß neben der fetten und leberfleckigen Iltis unter Unbekannten an dem querstehenden Tische rechts von Hans Castorp.

»Da sind deine Nachbarn«, sagte Joachim leise zu seinem Vetter, indem er sich vorneigte . . . Das Paar ging dicht an Hans Castorp vorbei zu dem letzten Tisch rechts, dem »Schlechten Russentisch« also, wo schon eine Familie mit einem häßlichen Knaben große Haufen Porridge verschlang. Der Mann war schmächtig gebaut und hatte graue und hohle Wangen. Er trug eine braune Lederjoppe und an den Füßen plumpe Filzstiefel mit Spangenverschluß. Seine Ehefrau, ebenfalls klein und zier-lich, in wippendem Federhut, trippelte auf winzigen, hochge-stöckelten Juchtenstiefelchen; eine unsaubere Boa aus Vogel-federn lag um ihren Hals. Hans Castorp betrachtete die beiden mit einer Rücksichtslosigkeit, die ihm sonst fremd war und die er selbst als brutal empfand; doch war es eben das Brutale daran, das ihm plötzlich ein gewisses Vergnügen verursachte. Seine Augen waren zugleich stumpf und zudringlich. Als in demsel-ben Augenblick die Glastür zur Linken zufiel, schmetternd und klirrend, wie beim ersten Frühstück, zuckte er nicht zusammen wie heute früh, sondern schnitt nur eine träge Grimasse; und als er den Kopf nach jener Seite wenden wollte, fand er, daß ihm dies allzu schwer falle und daß es die Mühe nicht lohne. So kam es, daß er auch diesmal nicht zu der Feststellung gelangte, wer mit der Tür denn so liederlich umgehe.

Die Sache war die, daß das Frühstücksbier, sonst nur von mä-ßig benebelnder Wirkung auf seine Natur, den jungen Mann heute vollständig betäubte und lähmte, - es zeitigte Folgen, als hätte er einen Schlag vor die Stirn bekommen. Seine Lider waren wie Blei so schwer, die Zunge gehorchte dem einfachen Gedanken nicht recht, als er aus Artigkeit mit der Engländerin zu plaudern versuchte; auch nur die Richtung des Blicks zu ver-ändern, erforderte große Selbstüberwindung, und hinzu kam, daß der abscheuliche Gesichtsbrand den gestrigen Grad nun wieder vollauf erreicht hatte: seine Wangen schienen ihm ge-dunsen vor Hitze, er atmete schwer, sein Herz pochte wie ein umwickelter Hammer, und wenn er unter all dem nicht sonder-lich litt, so war es deshalb, weil sein Kopf sich in einem Zustand