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befand, als habe er zwei oder drei Atemzüge von Chloroform getan. Daß Dr. Krokowski doch nun beim Frühstück erschien und an seiner Tafel, ihm gegenüber, Platz nahm, bemerkte er nur traumweise, obgleich der Doktor ihn wiederholentlich scharf ins Auge faßte, während er mit den Damen zu seiner Rechten russisch konversierte, - wobei die jungen Mädchen, näm-lich die blühende Marusja sowohl wie auch die magere Yoghurt-esserin, unterwürfig und schamhaft die Augen vor ihm nieder-schlugen. Übrigens hielt Hans Castorp sich redlich, wie sich von selbst versteht, schwieg, da seine Zunge sich widerspenstig zeigte, lieber still und handhabte Messer und Gabel sogar mit beson-derem Anstand. Als sein Vetter ihm zunickte und sich erhob, stand er ebenfalls auf, verneigte sich blind gegen die Tischgenos-sen und ging bestimmten Schrittes hinter Joachim hinaus. »Wann ist denn wieder Liegekur?« fragte er, als sie das Haus verließen. »Das ist das Beste hier, soviel ich sehe. Ich wollte, ich läge schon wieder auf meinem vorzüglichen Stuhl. Gehen wir weit spazieren?«

Ein Wort zuviel

» Nein«, sagte Joachim, »weit darf ich ja gar nicht gehen. Um die-se Zeit gehe ich immer ein bißchen hinunter, durchs Dorf und bis Platz, wenn ich Zeit habe. Man sieht Läden und Leute und kauft ein, was man braucht. Man liegt vor Tische noch eine Stunde, und dann liegt man wieder bis vier Uhr, sei ganz unbesorgt.«

Sie gingen im Sonnenschein die Anfahrt hinab und über-schritten den Wasserlauf und das schmale Geleise, die Bergge-stalten der rechten Tallehne vor Augen: das »Kleine Schiahorn«, die »Grünen Türme« und den »Dorfberg«, die Joachim bei Na-men nannte. Dort drüben, in einiger Höhe, lag der ummauerte Friedhof von Davos-Dorf, - auf diesen ebenfalls wies Joachim mit seinem Stocke hin. Und sie gewannen die Hauptstraße, die, um ein Stockwerk über die Talsohle erhöht, die terrassierte Leh-ne entlang führte.

Von einem Dorf konnte übrigens nicht gut die Rede sein; je-denfalls war nichts davon als der Name übrig. Der Kurort hatte es aufgezehrt, indem er sich immerfort gegen den Taleingang hin ausdehnte, und der Teil der gesamten Siedelung, welcher

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»Dorf« hieß, ging unmerklich und ohne Unterschied in den als »Davos Platz« bezeichneten über. Hotels und Pensionen, alle mit gedeckten Veranden, Balkons und Liegehallen reichlich ver-sehen, auch kleine Privathäuser, in denen Zimmer zu vermieten waren, lagen zu beiden Seiten; hier und da kamen Neubauten; manchmal setzte auch die Bebauung aus, und die Straße ge-währte den Blick in die offenen Wiesengründe des Tals . . .

Hans Castorp, in seinem Verlangen nach dem gewohnten, geliebten Lebensreiz, hatte sich wieder eine Zigarre angezündet, und wahrscheinlich dank dem vorangegangenen Biere ver-mochte er zu seiner unaussprechlichen Genugtuung hier und da etwas von dem ersehnten Aroma zu verspüren: nur selten und schwach freilich, - es war eine gewisse nervöse Anstrengung nötig, um eine Ahnung des Vergnügens zu empfangen, und der abscheuliche Ledergeschmack herrschte bei weitem vor. Unfä-hig, sich in seine Ohnmacht zu finden, rang er eine Weile nach dem Genuß, der sich ihm entweder versagte oder nur spottend ahnungsweise von ferne zeigte, und warf die Zigarre endlich er-müdet und angewidert fort. Trotz seiner Benommenheit fühlte er die Höflichkeitsverpflichtung, Konversation zu machen, und suchte sich zu diesem Zwecke der ausgezeichneten Dinge zu erinnern, die er vorhin über die »Zeit« zu sagen gehabt hatte. Allein es erwies sich, daß er den ganzen »Komplex« ohne Rest vergessen hatte und über die Zeit auch nicht den geringsten Ge-danken mehr in seinem Kopfe beherbergte. Dafür begann er von körperlichen Angelegenheiten zu reden, und zwar etwas sonderbar.

»Wann mißt du dich denn wieder?« fragte er. »Nach dem Essen? Ja, das ist gut. Da ist der Organismus in voller Tätigkeit, da muß es sich zeigen. Daß Behrens von mir verlangte, ich sollte mich ebenfalls messen, das war doch wohl nur Spaß, höre mal, -Settembrini lachte ja aus vollem Halse darüber, es hätte doch abso-lut keinen Sinn. Ich habe ja auch nicht mal ein Thermometer.«

»Nun«, sagte Joachim, »das wäre das wenigste. Du brauchst dir nur eines zu kaufen. Hier sind überall Thermometer zu ha-ben, beinahe in jedem Laden.«

»Aber wozu denn! Nein, die Liegekur, die lasse ich mir ge-fallen, die will ich wohl mitmachen, aber das Messen wäre zu-viel für einen Hospitanten, das überlasse ich denn doch lieber euch hier oben. Wenn ich nur wüßte«, fuhr Hans Castorp fort,

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indem er beide Hände zum Herzen führte wie ein Verliebter, »warum ich die ganze Zeit solches Herzklopfen habe, - es ist so beunruhigend, ich denke schon länger darüber nach. Siehst du, man hat Herzklopfen, wenn einem eine ganz besondere Freude bevorsteht oder wenn man sich ängstigt, kurz, bei Gemütsbe-wegungen, nicht? Aber wenn einem das Herz nun ganz von sel-ber klopft, grundlos und sinnlos und sozusagen auf eigene Hand, das finde ich geradezu unheimlich, versteh mich recht, es ist ja so, als ob der Körper seine eigenen Wege ginge und keinen Zusammenhang mit der Seele mehr hätte, gewissermaßen wie ein toter Körper, der ja auch nicht wirklich tot ist - das gibt es gar nicht -, sondern sogar ein sehr lebhaftes Leben führt, nämlich auf eigene Hand: es wachsen ihm noch die Haare und Nägel, und auch sonst soll physikalisch und chemisch, wie ich mir habe sagen lassen, ein überaus munterer Betrieb darin herr-schen . . .«

»Was sind denn das für Ausdrücke«, sagte Joachim besonnen verweisend. »Ein munterer Betrieb!« Und vielleicht rächte er sich damit ein wenig für den Verweis, den er heute früh wegen des »Schellenbaums« erhalten.

»Aber es ist doch so! Es ist ein sehr munterer Betrieb! Warum nimmst du denn Anstoß daran?« fragte Hans Castorp. »Übri-gens erwähnte ich das nur nebenbei. Ich wollte nichts weiter sagen als: es ist unheimlich und quälend, wenn der Körper auf eigene Hand und ohne Zusammenhang mit der Seele lebt und sich wichtig macht, wie bei solchem unmotivierten Herzklopfen. Man sucht förmlich nach einem Sinn dafür, einer Gemüts-bewegung, die dazu gehört, einem Gefühl der Freude oder der Angst, wodurch es sozusagen gerechtfertigt würde, - so geht es wenigstens mir, ich kann nur von mir reden.«

»|a, ja«, sagte Joachim seufzend, »es ist wohl so ähnlich, wie wenn man Fieber hat - dabei herrscht auch ein besonders ›mun-terer Betrieb‹ im Körper, um deinen Ausdruck zu gebrauchen, und da mag es schon sein, daß man sich unwillkürlich nach einer Gemütsbewegung umsieht, wie du sagst, wodurch der Be-eb einen halbwegs vernünftigen Sinn bekommt . . . Aber wir reden so unangenehmes Zeug«, sagte er mit bebender Stimme Und brach ab; worauf Hans Castorp nur mit den Achseln zuckte, Und zwar ganz so, wie er es gestern abend zuerst bei Joachim gesehen hatte.

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Sie gingen eine Weile schweigend. Dann fragte Joachim:

»Nun, wie gefallen dir denn die Leute hier? Ich meine die an unserem Tisch?«

Hans Castorp machte ein gleichgültig musterndes Gesicht.

»Gott«, sagte er, »sie scheinen mir nicht sehr interessant. An den anderen Tischen sitzen, glaube ich, interessantere, aber das kommt einem vielleicht nur so vor. Frau Stöhr sollte sich das Haar waschen lassen, es ist so fett. Und diese Mazurka da, oder wie sie. heißt, kommt mir etwas albern vor. Immer muß sie sich das Taschentuch in den Mund stopfen vor lauter Ki-chern.«