Liedes Riesenteppich - zweimalhunderttausend Verse«: diese Wendung aus Heines »Firdusi« war mein Lieblingszitat während der Arbeit gewesen und dann jenes Goethesche »Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß«.) Würden unter den heuti-gen Umständen mehr als ein paar tausend Leute sich bereit fin-den, für eine so wunderliche Unterhaltung, die mit Romanlek-türe in irgendeinem gewohnten Sinne fast nichts zu tun hätte, den Preis von sechzehn oder zwanzig Mark zu erlegen? Sicher war, daß die beiden Bände auch nur zehn Jahre früher weder hätten geschrieben werden noch Leser finden können. Es waren dazu Erlebnisse nötig gewesen, die der Autor mit seiner Nation gemeinsam hatte, und die er beizeiten in sich hatte kunstreif machen müssen, um mit seinem gewagten Produkt, wie einmal schon, im günstigen Augenblick hervorzutreten. Die Probleme des »Zauberbergs« waren von Natur nicht massengerecht, aber sie brannten der gebildeten Masse auf den Nägeln, und die all-gemeine Not hatte die Rezeptivität des breiten Publikums ge-nau jene alchimistische »Steigerung« erfahren lassen, die das ei-gentliche Abenteuer des kleinen Hans Castorp ausgemacht hatte. Ja, gewiß, der deutsche Leser erkannte sich wieder in dem schlichten aber »verschmitzten« Helden des Romans; er konnte und mochte ihm folgen.
In der Tat ist der »Zauberberg« ein sehr deutsches Buch, er ist es in dem Grade, daß fremdländische Beurteiler seine Welt-möglichkeit vollkommen unterschätzten. Ein hervorragender schwedischer Kritiker erklärte öffentlich mit aller Entschieden,-heit, daß man niemals eine Übertragung dieses Buches in eine fremde Sprache wagen werde, weil es absolut untauglich dazu sei. Das war eine falsche Prophezeiung. Der »Zauberberg« ist in fast alle europäischen Sprachen übersetzt worden, und soweit ich darüber urteilen kann, hat keines meiner Bücher in der Welt überhaupt und, ich konstatiere es mit Freude, besonders in Amerika so viel Interesse erregt wie dieses.
Was soll ich nun über das Buch selbst sagen und darüber, wie es etwa zu lesen sei? Der Beginn ist eine sehr arrogante Forde-rung, nämlich die, daß man es zweimal lesen soll. Diese Forde-rung wird natürlich sofort zurückgezogen für den Fall, daß man sich das erste Mal dabei gelangweilt hat. Kunst soll keine Schul-aufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und
beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden. Wer aber mit dem »Zauberberg« überhaupt einmal zu Ende gekommen ist, dem rate ich, ihn noch einmal zu lesen, denn seine besondere Machart, sein Charakter als Komposition bringt es mit sich, daß das Vergnügen des Lesers sich beim zweiten Mal erhöhen und vertiefen wird, - wie man ja auch Musik schon kennen muß, um sie richtig zu genießen. Nicht zufällig gebrauchte ich das Wort Komposition, das man gewöhnlich der Musik vorbehält. Die Musik hat von jeher stark stilbildend in meine Arbeit hin-eingewirkt. Dichter sind meistens »eigentlich« etwas anderes, sie sind versetzte Maler oder Graphiker oder Bildhauer oder Ar-chitekten oder was weiß ich. Was mich betrifft, muß ich mich zu den Musikern unter den Dichtern rechnen. Der Roman war mir immer eine Symphonie, ein Werk der Kontrapunktik, ein Themengewebe, worin die Ideen die Rolle musikalischer Motive spielen. Man hat wohl gelegentlich - ich selbst habe das ge-tan - auf den Einfluß hingewiesen, den die Kunst Richard Wagners auf meine Produktion ausgeübt hat. Ich verleugne diesen Einfluß gewiß nicht, und besonders folgte ich Wagner auch in der Benützung des Leitmotivs, das ich in die Erzählung über-trug, und zwar nicht, wie es noch bei Tolstoi und Zola, auch noch in meinem eigenen Jugendroman »Buddenbrooks«, der Fall ist, auf eine bloß naturalistisch-charakterisierende, sozusa-gen mechanische Weise, sondern in der symbolischen Art der Musik. Hierin versuchte ich mich zunächst im »Tonio Kröger«. Die Technik, die ich dort übte, ist im »Zauberberg« in einem viel weiteren Rahmen auf die komplizierteste und alles durch-dringende Art angewandt. Und eben damit hängt meine anma-ßende Forderung zusammen, den »Zauberberg« zweimal zu lesen. Man kann den musikalisch-ideellen Beziehungs-Komplex, den er bildet, erst richtig durchschauen und genießen, wenn man seine Thematik schon kennt und imstande ist, das symbo-lisch anspielende Formelwort nicht nur rückwärts, sondern auch vorwärts zu deuten.
Damit komme ich auf etwas schon Berührtes zurück, nämlich auf das Mysterium der Zeit, mit dem der Roman auf mehrfache Weise sich abgibt. Er ist ein Zeitroman in doppeltem Sinn: einmal historisch, indem er das innere Bild einer Epoche, der europäischen Vorkriegszeit, zu entwerfen versucht, dann aber, weil
die reine Zeit selbst sein Gegenstand ist, den er nicht nur als die Erfahrung seines Helden, sondern auch in und durch sich selbst behandelt. Das Buch ist selbst das, wovon es erzählt; denn in-dem es die hermetische Verzauberung seines jungen Helden ins Zeitlose schildert, strebt es selbst durch seine künstlerischen Mittel die Aufhebung der Zeit an durch den Versuch, der musi-kalisch-ideellen Gesamtwelt, die es umfaßt, in jedem Augen-blick volle Präsenz zu verleihen und ein magisches »nunc stans« herzustellen. Sein Ehrgeiz aber, Inhalt und Form, Wesen und Erscheinung zu voller Kongruenz zu bringen und immer zu-gleich das zu sein, wovon es handelt und spricht, dieser Ehrgeiz geht weiter. Er bezieht sich noch auf ein anderes Grundthema, auf das der Steigerung, welcher oft das Beiwort »alchimistisch« gegeben wird. Sie erinnern sich: der junge Hans Castorp ist ein simpler Held, ein Hamburger Familien-Söhnchen und Durch-schnitts-Ingenieur. In der fieberhaften Hermetik des Zauberber-ges aber erfährt dieser schlichte Stoff eine Steigerung, die ihn zu moralischen, geistigen und sinnlichen Abenteuern fähig macht, von denen er sich in der Welt, die immer ironisch als das Flach-land bezeichnet wird, nie hätte etwas träumen lassen. Seine Ge-schichte ist die Geschichte einer Steigerung, aber sie ist Steigerung auch in sich selbst, als Geschichte und Erzählung. Sie ar-beitet wohl mit den Mitteln des realistischen Romanes, aber sie ist kein solcher, sie geht beständig über das Realistische hinaus, indem sie es symbolisch steigert und transparent macht für das Geistige und Ideelle. Schon in der Behandlung ihrer Figuren tut sie das, die für das Gefühl des Lesers alle mehr sind als sie scheinen: sie sind lauter Exponenten, Repräsentanten und Send-boten geistiger Bezirke, Prinzipien und Welten. Ich hoffe, sie sind deswegen keine Schatten und wandelnde Allegorien. Im Gegenteil bin ich durch die Erfahrung beruhigt, daß der Leser diese Personen, Joachim, Clawdia Chauchat, Peeperkorn, Set-tembrini und wie sie heißen, als wirkliche Menschen erlebt, de-ren er sich wie wirklich gemachter Bekanntschaften erinnert.
Dies Buch also ist räumlich und geistig auf dem Wege der Steigerung weit über das hinausgewachsen, was der Autor ur-sprünglich mit ihm vorhatte. Aus der short story wurde der zweibändige Wälzer - ein Malheur, das sich nicht ereignet hätte, wenn der »Zauberberg« das geblieben wäre, was viele Leute anfangs in ihm sahen und noch heute in ihm sehen: eine Satire