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ohne all und jede Bildung, obgleich er ein Korsett trage, und seinem Wesen nach einfach ein Raubtier, - ja, ein Raubtier, wiederholte Frau Stöhr mit erstickter Stimme, indem ihr auf Stirn und Oberlippe der Schweiß ausbrach. In welchen Bezie-hungen Frau Generalkonsul Wurmbrand aus Wien zu ihm ste-he, das wisse ja Dorf und Platz, - man könne wohl kaum noch von geheimnisvollen Beziehungen sprechen. Denn nicht genug, daß der Hauptmann zuweilen schon morgens zu der General-konsulin aufs Zimmer komme, wenn diese noch im Bett liege, worauf er dann ihrer ganzen Toilette beiwohne, sondern am vorigen Dienstag habe er das Zimmer der Wurmbrand über-haupt erst morgens um vier Uhr verlassen, - die Pflegerin des jungen Franz auf Nummer neunzehn, bei dem neulich der Pneumothorax mißglückt sei, habe ihn selbst dabei betroffen und vor Scham die gesuchte Tür verfehlt, so daß sie sich plötz-lich in dem Zimmer des Staatsanwalts Paravant aus Dortmund gesehen habe . . . Schließlich erging Frau Stöhr sich längere Zeit über eine »kosmische Anstalt«, die sich drunten im Ort befinde, und in der sie ihr Zahnwasser kaufe, - Joachim blickte starr auf seinen Teller nieder . . .

Das Mittagessen war sowohl meisterhaft zubereitet wie auch im höchsten Grade ausgiebig. Die nahrhafte Suppe eingerech-net, bestand es aus nicht weniger als sechs Gängen. Dem Fisch folgte ein gediegenes Fleischgericht mit Beilagen, hierauf eine besondere Gemüseplatte, gebratenes Geflügel dann, eine Mehl-speise, die jener von gestern abend an Schmackhaftigkeit nicht nachstand, und endlich Käse und Obst. Jede Schüssel ward zweimal gereicht - und nicht vergebens. Man füllte die Teller und aß an den sieben Tischen, - ein Löwenappetit herrschte im Gewölbe, ein Heißhunger, dem zuzusehen wohl ein Vergnügen gewesen wäre, wenn er nicht gleichzeitig auf irgendeine Weise unheimlich, ja abscheulich gewirkt hätte. Nicht nur die Munte-ren legten ihn an den Tag, die schwatzten und einander mit Brotkügelchen warfen, nein, auch die Stillen und Finsteren, die in den Pausen den Kopf in die Hände stützten und starrten. Ein halbwüchsiger Mensch am Nebentisch links, ein Schuljunge seinen Jahren nach, mit zu kurzen Ärmeln und dicken, kreis-runden Brillengläsern, schnitt alles, was er sich auf den Teller häufte, im voraus zu einem Brei und Gemengsei zusammen; dann beugte er sich darüber und schlang, indem er zuweilen mit

der Serviette hinter die Brille fuhr, um sich die Augen zu wi-schen, - man wußte nicht, was da zu trocknen war, ob Schweiß oder Tränen.

Zwei Zwischenfälle ereigneten sich während der großen Mahlzeit und erregten Hans Castorps Aufmerksamkeit, soweit sein Befinden dies zuließ. Erstens fiel wieder die Glastür zu, -es war beim Fisch. Hans Castorp zuckte erbittert und sagte dann in zornigem Eifer zu sich selbst, daß er unbedingt diesmal den Eiter feststellen müsse. Er dachte es nicht nur, er sagte es auch mit den Lippen, so ernst war es ihm. »Ich muß es wissen!« flü-sterte er mit übertriebener Leidenschaftlichkeit, so daß Miß Robinson sowohl wie die Lehrerin ihn verwundert anblickten. Und dabei wandte er den ganzen Oberkörper nach links und riß seine blutüberfüllten Augen auf.

Es war eine Dame, die da durch den Saal ging, eine Frau, ein junges Mädchen wohl eher, nur mittelgroß, in weißem Sweater und farbigem Rock, mit rötlichblondem Haar, das sie einfach in Zöpfen um den Kopf gelegt trug. Hans Castorp sah nur wenig von ihrem Profil, fast gar nichts. Sie ging ohne Laut, was zu dem Lärm ihres Eintritts in wunderlichem Gegensatz stand, ging eigentümlich schleichend und etwas vorgeschobenen Kop-fes zum äußersten Tische links, der senkrecht zur Verandatür stand, dem »Guten Russentisch« nämlich, wobei sie die eine Hand in der Tasche der anliegenden Wolljacke hielt, die andere aber, das Haar stützend und ordnend, zum Hinterkopf führte. Hans Castorp blickte auf diese Hand, - er hatte viel Sinn und kritische Aufmerksamkeit für Hände und war gewöhnt, auf die-sen Körperteil zuerst, wenn er neue Bekanntschaften machte, sein Augenmerk zu richten. Sie war nicht sonderlich damenhaft, die Hand, die das Haar stützte, nicht so gepflegt und veredelt, wie Frauenhände in des jungen Hans Castorp gesellschaftlicher Sphäre zu sein pflegten. Ziemlich breit und kurzfingrig, hatte sie etwas Primitives und Kindliches, etwas von der Hand eines Schulmädchens; ihre Nägel wußten offenbar nichts von Mani-küre, sie waren schlecht und recht beschnitten, ebenfalls wie bei einem Schulmädchen, und an ihren Seiten schien die Haut etwas aufgerauht, fast so, als werde hier das kleine Laster des Fin-gerkauens gepflegt. Übrigens erkannte Hans Castorp dies eher ahnungsweise, als daß er es eigentlich gesehen hätte, die Entfer-nung war doch zu bedeutend. Mit einem Kopfnicken begrüßte

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die Nachzüglerin ihre Tischgesellschaft, und indem sie sich setzte, an die Innenseite des Tisches, den Rücken gegen den Saal, zur Seite Dr. Krokowskis, der dort den Vorsitz hatte, wandte sie, noch immer die Hand am Haar, den Kopf über die Schulter und überblickte das Publikum, - wobei Hans Castorp flüchtig bemerkte, daß sie breite Backenknochen und schmale Augen hatte . . . Eine vage Erinnerung an irgend etwas und ir-gendwen berührte ihn leicht und vorübergehend, als er das sah ...

Natürlich, ein Frauenzimmer! dachte Hans Castorp, und wie-der murmelte er es ausdrücklich vor sich hin, so daß die Lehre-rin, Fräulein Engelhart, verstand, was er sagte. Die dürftige alte Jungfer lächelte gerührt.

»Das ist Madame Chauchat«, sagte sie. »Sie ist so lässig. Eine entzückende Frau.« Und dabei verstärkte sich die flaumige Röte auf Fräulein Engelharts Wangen um eine Schattierung, - was übrigens immer der Fall war, sobald sie den Mund öffnete.

»Französin?« fragte Hans Castorp streng.

»Nein, sie ist Russin«, sagte die Engelhart. »Vielleicht ist der Mann Franzose oder französischer Abkunft, das weiß ich nicht sicher.«

Ob es der dort sei, fragte Hans Castorp, noch immer gereizt, und deutete auf einen Herrn mit vorhängenden Schultern am Guten Russentisch.

O nein, er sei nicht hier, entgegnete die Lehrerin. Er sei überhaupt noch nicht hier gewesen, sei hier ganz unbekannt.

»Sie sollte die Tür ordentlich zumachen!« sagte Hans Castorp. »Immer läßt sie sie zufallen. Das ist doch eine Unmanier.«

Und da die Lehrerin den Verweis demütig lächelnd einsteck-te, als sei sie selber die Schuldige, so war nicht weiter die Rede von Madame Chauchat. —

Das zweite Vorkommnis bestand darin, daß Dr. Blumenkohl vorübergehend den Saal verließ, - weiter war es nichts. Plötz-lich verstärkte sich der leise angewiderte Ausdruck seines Ge-sichtes, sorgenvoller als sonst blickte er auf einen Punkt, schob dann mit bescheidener Bewegung seinen Stuhl zurück und ging hinaus. Hier aber zeigte sich Frau Stöhrs große Unbildung im vollsten Licht, denn wahrscheinlich aus gemeiner Genugtuung darüber, daß sie weniger krank war als Blumenkohl, begleitete sie seinen Weggang mit halb mitleidigen, halb verächtlichen