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Glossen. »Der Ärmste!« sagte sie. »Der pfeift bald aus dem letz-ten Loch. Schon wieder muß er sich mit dem Blauen Heinrich besprechen.« Ganz ohne Überwindung, mit störrisch unwissen-der Miene, brachte sie die fratzenhafte Bezeichnung »der Blaue Heinrich« über die Lippen, und Hans Castorp empfand ein Ge-misch von Schrecken und Lachreiz, als sie es sagte. Übrigens kehrte Dr. Blumenkohl nach wenigen Minuten in der gleichen bescheidenen Haltung zurück, in der er hinausgegangen war, nahm wieder Platz und fuhr fort zu essen. Auch er aß sehr viel, von jedem Gerichte zweimal, stumm und mit sorgenvoll ver-schlossener Miene.

Dann war das Mittagessen beendet: dank einer gewandten Bedienung - denn die Zwergin besonders war ein sonderbar raschfüßiges Wesen - hatte es nur eine gute Stunde gedauert. Hans Castorp, schwer atmend, und ohne recht zu wissen, wie er heraufgekommen war, lag wieder auf dem vorzüglichen Stuhl in seiner Balkonloge, denn nach dem Essen war Liegekur bis zum Tee, - sogar die wichtigste des Tages und streng einzuhal-ten. Zwischen den undurchsichtigen Glaswänden, die ihn von Joachim trennten, lag er und dämmerte mit pochendem Herzen, Indem er Luft durch den Mund holte. Als er sein Taschentuch benutzte, fand er es von Blut gerötet, aber er hatte nicht die Kraft, sich Gedanken darüber zu machen, obgleich er ja etwas ängstlich mit sich war und von Natur ein wenig zu hypochon-drischen Grillen neigte. Wieder hatte er sich eine Maria Manci-ni angezündet, und diesmal rauchte er sie zu Ende, mochte sie nun wie immer schmecken. Schwindelig, beklommen und träu-merisch bedachte er, wie sehr sonderbar es ihm hier oben erge-he. Zwei- oder dreimal ward seine Brust von innerem Lachen erschüttert über die schauderhafte Bezeichnung, deren Frau Stöhr in ihrer Unbildung sich bedient hatte.

- Herr Albin

Drunten im Garten hob sich das Phantasie-Fahnentuch mit dem Schlangenstabe zuweilen im Windhauch. Der Himmel hatte sich wieder gleichmäßig bedeckt. Die Sonne war fort, und so-gleich war es fast unwirtlich kühl geworden. Die gemeinsame Liegehalle schien voll besetzt; es herrschte Gespräch mit Geki-cher dort unten.

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»Herr Albin, ich flehe Sie an, legen Sie das Messer fort, stek-ken Sie es ein, es geschieht ein Unglück damit!« klagte eine ho-he, schwankende Damenstimme. Und:

»Bester Herr Albin, um Gottes willen, schonen Sie unsere Nerven und bringen Sie uns das entsetzliche Mordding aus den Augen!« mischte sich eine zweite darein, - worauf ein blond-köpfiger junger Mann, welcher, eine Zigarette im Munde, seit-wärts auf dem vordersten Liegestuhl saß, in frechem Tone erwi-derte:

»Fällt mir nicht ein! Die Damen werden mir doch erlauben, etwas mit meinem Messer zu spielen! Nun ja, gewiß, es ist ein besonders scharfes Messer. Ich habe es in Kalkutta einem blin-den Zauberer abgekauft... Er konnte es verschlucken, und gleich darauf grub sein Boy es fünfzig Schritte von ihm entfernt aus dem Boden . . . Wollen Sie sehen? Es ist viel schärfer als ein Rasiermesser. Man braucht die Schneide nur zu berühren, und sie geht einem ins Fleisch wie durch Butter. Warten Sie, ich zei-ge es Ihnen näher . . .« Und Herr Albin stand auf. Ein Ge-kreisch erhob sich. »Nein, jetzt hole ich meinen Revolver!« sag-te Herr Albin. »Das wird Sie mehr interessieren. Ein ganz ver-flixtes Ding. Von einer Durchschlagkraft . . . Ich hole ihn aus meinem Zimmer.«

»Herr Albin, Herr Albin, tun Sie es nicht!« zeterten mehrere Stimmen. Aber Herr Albin kam schon aus der Liegehalle her-vor, um auf sein Zimmer zu gehen, - blutjung und schlenkricht, mit rosigem Kindergesicht und kleinen Backenstreifen neben den Ohren.

»Herr Albin«, rief eine Dame hinter ihm drein, »holen Sie lieber Ihren Paletot, ziehen Sie ihn an, tun Sie es mir zuliebe! Sechs Wochen haben Sie mit Lungenentzündung gelegen, und nun sitzen Sie hier ohne Überzieher und decken sich nicht ein-mal zu und rauchen Zigaretten! Das heißt Gott versuchen. Herr Albin, mein Ehrenwort!«

Aber er lachte nur höhnisch im Weggehen, und schon nach wenigen Minuten kehrte er mit dem Revolver zurück. Da kreischten sie noch alberner als vorhin, und man hörte, daß mehrere von den Stühlen springen wollten, sich in ihre Decken verwickelten und stürzten.

»Sehen Sie, wie klein und blank er ist«, sagte Herr Albin, »aber wenn ich hier drücke, so beißt er zu . . .« Ein neues Ge-

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kreisch. »Er ist natürlich scharf geladen«, fuhr Herr Albin fort. »In dieser Scheibe hier stecken die sechs Patronen, die dreht sich bei jedem Schuß um ein Loch weiter . . . Übrigens halte ich mir das Ding nicht zum Spaß«, sagte er, da er bemerkte, daß die Wirkung sich abnutzte, ließ den Revolver in die Brusttasche gleiten und setzte sich wieder mit übergeschlagenem Bein auf seinen Stuhl, indem er sich eine frische Zigarette anzündete. »Durchaus nicht zum Spaß«, wiederholte er und preßte die Lip-pen zusammen.

»Wozu denn? Wozu denn?« fragten ahnungsvoll bebende Stimmen. »Entsetzlich!« schrie plötzlich eine einzelne, und da nickte Herr Albin.

»Ich sehe, Sie fangen an, zu begreifen«, sagte er. »In der Tat, dazu halte ich ihn mir«, fuhr er leichthin fort, nachdem er trotz der überstandenen Lungenentzündung eine Menge Rauch ein--ezogen und wieder von sich geblasen hatte. »Ich halte ihn in Bereitschaft für den Tag, wo mir dieser Trödel hier zu langwei-lig wird und wo ich die Ehre haben werde, mich ergebenst zu empfehlen. Die Sache ist ziemlich einfach . . . Ich habe einiges Studium darauf verwandt und bin mit mir im reinen darüber, wie sie am besten zu deichseln ist. (Bei dem Worte »deichseln« ertönte ein Schrei.) Die Herzpartie schaltet aus . . . Der Ansatz ist mir da nicht recht bequem . . . Auch ziehe ich es vor, das Be-wußtsein an Ort und Stelle auszulöschen, nämlich indem ich mir so einen hübschen kleinen Fremdkörper in dieses interes-sante Organ appliziere . . .« Und Herr Albin deutete mit dem Zeigefinger auf seinen kurzgeschorenen Blondschädel. »Man muß hier ansetzen« - Herr Albin zog den vernickelten Revolver wieder aus der Tasche und klopfte mit der Mündung an seine Schläfe -, »hier oberhalb der Schlagader . . . Sogar ohne Spiegel ist es eine glatte Sache . . .«

Mehrstimmiger, flehender Protest ward laut, in den sich sogar ein heftiges Schluchzen mischte.

»Herr Albin, Herr Albin, den Revolver weg, nehmen Sie den Revolver von Ihrer Schläfe weg, es ist nicht anzusehen! Herr Albin, Sie sind jung, Sie werden gesund werden, Sie werden ins Leben zurückkehren und sich der allgemeinen Beliebtheit er-freuen, mein Ehrenwort! Ziehen Sie nur Ihren Mantel an, legen Sie sich hin, decken Sie sich zu, machen Sie Kur! Jagen Sie den Bademeister nicht wieder fort, wenn er kommt, um Sie mit Al-

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kohol abzureiben! Lassen Sie das Zigarettenrauchen, Herr Albin, hören Sie, wir bitten um Ihr Leben, Ihr junges, kostbares Le-ben!«

Aber Herr Albin war unerbittlich.

»Nein, nein«, sagte er, »lassen Sie mich, es ist gut, ich danke Ihnen. Ich habe noch nie einer Dame etwas abgeschlagen, aber Sie werden einsehen, daß es unnütz ist, dem Schicksal in die Speichen zu fallen. Ich bin im dritten Jahr hier . . . ich habe es satt und spiele nicht mehr mit, - können Sie mir das verargen? Unheilbar, meine Damen, - sehen Sie mich an, wie ich hier sit-ze, bin ich unheilbar, - der Hofrat selbst macht kaum noch eh-ren- und schandenhalber ein Hehl daraus. Gönnen Sie mir das bißchen Ungebundenheit, das für mich aus dieser Tatsache re-sultiert! Es ist wie auf dem Gymnasium, wenn es entschieden war, daß man sitzen blieb und nicht mehr gefragt wurde und nichts mehr zu tun brauchte. Zu diesem glücklichen Zustand bin ich nun endgültig wieder gediehen. Ich brauche nichts mehr zu tun, ich komme nicht mehr in Betracht, ich lache über das Gan-ze. Wollen Sie Schokolade? Bedienen Sie sich! Nein, Sie berau-ben mich nicht, ich habe massenweise Schokolade auf meinem Zimmer. Acht Bonbonnieren, fünf Tafeln Gala-Peter und vier Pfund Lindtschokolade habe ich da oben, - das alles haben die Damen des Sanatoriums mir während meiner Lungenentzün-dung zustellen lassen . . .«