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Irgendwoher gebot eine Baßstimme Ruhe. Herr Albin lachte kurz auf, - es war ein flatternd-abgerissenes Lachen. Dann ward es still in der Liegehalle, so still, als sei ein Traum oder Spuk zerstoben; und sonderbar klangen die gesprochenen Worte im Schweigen nach. Hans Castorp lauschte ihnen, bis sie völlig er-storben waren, und obwohl ihm unbestimmt schien, als ob Herr Albin ein Laffe sei, so konnte er sich doch nicht eines gewissen Neides auf ihn erwehren. Namentlich jenes dem Schulleben entnommene Gleichnis hatte ihm Eindruck gemacht, denn er selbst war ja in Untersekunda sitzengeblieben, und er erinnerte sich wohl des etwas schimpflichen, aber humoristischen, ange-nehm verwahrlosten Zustandes, dessen er genossen hatte, als er im vierten Quartal das Rennen aufgegeben und »über das Gan-ze« hatte lachen können. Da seine Betrachtungen dumpf und verworren waren, so ist es schwer, sie zu präzisieren. Hauptsäch-lich schien ihm, daß die Ehre bedeutende Vorteile für sich habe,

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aber die Schande nicht minder, ja, daß die Vorteile der letzteren geradezu grenzenloser Art seien. Und indem er sich probeweise in Herrn Albins Zustand versetzte und sich vergegenwärtigte, wie es sein müsse, wenn man endgültig des Druckes der Ehre ledig war und auf immer die bodenlosen Vorteile der Schande genoß, erschreckte den jungen Mann ein Gefühl von wüster Süßigkeit, das sein Herz vorübergehend zu noch hastigerem ( lange erregte.

Satana macht ehrrührige Vorschläge

Später verlor er das Bewußtsein. Nach seiner Taschenuhr war es halb vier, als Gespräch hinter der linken Glaswand ihn weckte: Dr. Krokowski, der um diese Zeit ohne den Hofrat die Runde machte, sprach dort russisch mit dem unmanierlichen Ehepaar, erkundigte sich, wie es schien, nach dem Befinden des Gatten und ließ sich seine Fiebertabelle zeigen. Dann aber setzte er sei-nen Weg nicht durch die Balkonlogen fort, sondern umging Hans Castorps Abteil, indem er sich auf den Korridor zurückbe-gab und durch die Zimmertür bei Joachim eintrat. Daß man solchergestalt einen Bogen um ihn beschrieb und ihn links lie-gen ließ, empfand Hans Castorp denn doch als etwas verletzend, obgleich ihn nach einem Zusammensein unter vier Augen mit Dr. Krokowski ja durchaus nicht verlangte. Freilich, er war eben gesund und zählte nicht mit, - denn bei denen hier oben, dach-te er, lagen die Dinge so, daß derjenige nicht in Betracht kam und nicht gefragt wurde, der die Ehre hatte, gesund zu sein, und das ärgerte den jungen Castorp.

Nachdem Dr. Krokowski sich bei Joachim zwei oder drei Minuten verweilt hatte, ging er den Balkon entlang weiter, und I (ans Castorp hörte den Vetter sagen, daß man nun aufstehen und sich zur Vespermahlzeit bereit machen könne. »Schön«, sagte er und stand auf. Aber es schwindelte ihn sehr vom langen Liegen, und der unerquickliche Halbschlaf hatte ihm das Gesicht aufs neue peinlich erhitzt, während er übrigens zum Frösteln neigte, - vielleicht hatte er sich nicht warm genug zu-gedeckt. Er wusch sich Augen und Hände, ordnete sein Haar und seine Kleider und traf mit Joachim auf dem Korridor zu-sammen.

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»Hast du diesen Herrn Albin gehört?« fragte er, als sie die Treppen hinuntergingen . . .

»Natürlich«, sagte Joachim. »Der Mensch müßte diszipliniert werden. Stört da die ganze Mittagsruhe mit seinem Geschwätz und regt die Damen so auf, daß er sie um Wochen zurückbringt. Eine grobe Insubordination. Aber wer will denn den Denun-zianten machen. Und außerdem sind solche Reden ja den mei-sten als Unterhaltung willkommen.«

»Hältst du es für möglich«, fragte Hans Castorp, »daß er Ernst macht mit seiner ›glatten Sache‹, wie er sich ausdrückt, und sich einen Fremdkörper appliziert?«

»Ach, doch«, antwortete Joachim, »ganz unmöglich ist es nicht. Dergleichen kommt vor hier oben. Zwei Monate bevor ich kam, hat sich ein Student, der schon lange hier war, nach ei-ner Generaluntersuchung im Walde drüben aufgehängt. Es war in meinen ersten Tagen noch viel die Rede davon.«

Hans Castorp gähnte erregt.

»Ja, gut fühle ich mich nicht bei euch«, erklärte er, »das kann ich nicht sagen. Ich halte es für möglich, daß ich nicht bleiben kann, du, daß ich abreisen muß, - würdest du es mir weiter übelnehmen?«

»Abreisen? Was fällt dir ein!« rief Joachim. »Unsinn. Wo du gerade erst angekommen bist. Wie willst du denn urteilen nach dem ersten Tage!«

»Gott, ist noch immer der erste Tag? Mir ist ganz, als wär ich schon lange - lange bei euch hier oben.«

»Nun fange nur nicht wieder an, über die Zeit zu spintisie-ren!« sagte Joachim. »Ganz konfus hast du mich heute morgen gemacht.«

»Nein, sei beruhigt, ich habe alles vergessen«, erwiderte Hans Castorp. »Den ganzen Komplex. Jetzt bin ich auch kein bißchen scharf mehr im Kopfe, das ist vorüber . . . Nun gibt es also Tee.«

»Ja, und dann gehen wir wieder bis zu der Bank von heute morgen.«

»In Gottes Namen. Aber hoffentlich treffen wir Settembrini nicht wieder. Ich kann mich heute an keinem gebildeten Ge-spräch mehr beteiligen, das sage ich dir im voraus.«

Im Speisesaal wurden alle Getränke geschenkt, die zu dieser Stunde nur irgend in Betracht kommen. Miß Robinson trank wieder ihren blutroten Hagebuttentee, während die Großnichte

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Yoghurt löffelte. Außerdem gab es Milch, Tee, Kaffee, Schoko-lade, ja sogar Fleischbrühe, und überall waren die Gäste, die seit dem üppigen Mittagsmahl zwei Stunden liegend verbracht hat-ten, eifrig beschäftigt, Butter auf große Schnitten Rosinenku-chen zu streichen.

Hans Castorp hatte sich Tee geben lassen und tauchte Zwieback hinein. Auch etwas Marmelade versuchte er. Den Rosinen-kuchen betrachtete er genau, doch erzitterte er buchstäblich bei dem Gedanken, davon zu essen. Abermals saß er an seinem Platze im Saal mit dem einfältig bunten Gewölbe, den sieben Tischen, - zum viertenmal. Etwas später, um sieben Uhr, saß er zum fünftenmal dort, und da galt es das Abendessen. In die Zwischenzeit, welche kurz und nichtig war, fiel ein Spaziergang zu jener Bank an der Bergwand, beim Wasserrinnsal - der Weg war jetzt dicht belebt von Patienten, so daß die Vettern häufig zu grüßen hatten - und eine neuerliche Liegekur auf dem Bal-kon, von flüchtigen und gehaltlosen anderthalb Stunden. Hans Castorp fröstelte heftig dabei.

Zur Abendmahlzeit kleidete er sich gewissenhaft um und aß dann zwischen Miß Robinson und der Lehrerin Juliennesuppe, gebackenes und gebratenes Fleisch nebst Zubehör, zwei Stücke von einer Torte, in der alles vorkam: Makronenteig, Buttercre-me, Schokolade, Fruchtmus und Marzipan, und sehr guten Käse auf Pumpernickel. Wieder ließ er sich eine Flasche Kulmbacher dazu geben. Als er jedoch sein hohes Glas zur Hälfte geleert hatte, erkannte er klar und deutlich, daß er ins Bett gehöre. In deinem Kopfe rauschte es, seine Augenlider waren wie Blei, sein Herz ging wie eine kleine Pauke, und zu seiner Qual bildete er »ich ein, daß die hübsche Marusja, die, vornüber geneigt, ihr Gesicht in der Hand mit dem kleinen Rubin verbarg, über ihn lache, obgleich er sich so angestrengt bemüht hatte, keinerlei Veranlassung dazu zu geben. Wie aus weiter Ferne hörte er Frau Stöhr etwas erzählen oder behaupten, was ihm als so tolles Zeug erschien, daß er in verwirrte Zweifel geriet, ob er noch richtig höre oder ob Frau Stöhrs Äußerungen sich vielleicht in seinem Kopfe zu Unsinn verwandelten. Sie erklärte, daß sie achtund-zwanzig verschiedene Fischsaucen zu bereiten verstehe, - sie habe den Mut, dafür einzustehen, obgleich ihr eigener Mann sie gewarnt habe, davon zu sprechen. »Sprich nicht davon!« habe er gesagt. »Niemand wird es dir glauben, und wenn man es glaubt,