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so wird man es lächerlich finden!« Und doch wolle sie es heute einmal sagen und offen bekennen, daß es achtundzwanzig Fischsaucen seien, die sie machen könne. Das schien dem armen Hans Castorp entsetzlich; er erschrak, griff sich mit der Hand an die Stirn und vergaß vollkommen, einen Bissen Pumpernickel mit Chester, den er im Munde hatte, fertig zu kauen und hin-unterzuschlucken. Noch als man vom Tische aufstand; hatte er ihn im Munde.

Man ging durch die Glastür zur Linken hinaus, jene fatale, die immer zufiel und die geradewegs in die vordere Halle führ-te. Fast alle Gäste nahmen diesen Weg, denn es zeigte sich, daß um die Stunde nach dem Diner in der Halle und den anliegen-den Salons eine Art von Geselligkeit stattfand. Die Mehrzahl der Patienten stand in kleinen Gruppen plaudernd umher. An zwei grün ausgeschlagenen Klapptischen lag man dem Spiele ob; es war Domino an dem einen, Bridge an dem anderen Tische, und hier waren es nur junge Leute, die spielten, darunter Herr Albin und Hermine Kleefeld. Ferner gab es ein paar unter-haltende optische Gegenstände im ersten Salon: einen stereo-skopischen Guckkasten, durch dessen Linsen man die in seinem Innern aufgestellten Photographien, zum Beispiel einen vene-zianischen Gondolier, in starrer und blutloser Körperlichkeit er-blickte; zweitens ein fernrohrförmiges Kaleidoskop, an dessen Linse man ein Auge legte, um sich, nur durch leichte Handha-bung eines Rades, buntfarbige Sterne und Arabesken in zauber-hafter Abwechslung vorzugaukeln; eine drehende Trommel endlich, in die man kinematographische Filmstreifen legte und durch deren Öffnungen, wenn man seitlich hineinsah, ein Mül-ler, der sich mit einem Schornsteinfeger prügelte, ein Schulmei-ster, einen Knaben züchtigend, ein springender Seiltänzer und ein Bauernpärchen im ländlertanz zu beobachten waren. Hans Castorp, die kalten Hände auf den Knien, blickte längere Zeit in jeden der Apparate. Er verweilte sich auch ein wenig am Bridgetische, wo der unheilbare Herr Albin mit hängenden Mundwinkeln und weltmännisch wegwerfenden Bewegungen die Karten handhabte. In einem Winkel saß Dr. Krokowski, be-griffen in frischem und herzlichem Gespräch mit einem Halb-kreise von Damen, zu welchem Frau Stöhr, Frau Iltis und Fräu-lein Levi gehörten. Die Inhaber des Guten Russentisches hatten sich in den anstoßenden kleineren Salon zurückgezogen, der

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nur durch Portieren vom Spielzimmer getrennt war, und bilde-ten dort eine intime Clique. Es waren außer Madame Chauchat: ein blondbärtiger, schlaffer Herr mit konkavem Brustkasten und glotzenden Augäpfeln; ein tief brünettes Mädchen von origi-nellem und humoristischem Typus, mit goldenen Ohrringen und wirrem Wollhaar; ferner Dr. Blumenkohl, der sich ihnen zugesellt hatte, und noch zwei hängeschultrige Jünglinge. Madame Chauchat trug ein blaues Kleid mit weißem Spitzenkra-gen. Sie saß, als Mittelpunkt ihrer Gruppe, auf dem Sofa hinter dem runden Tisch, im Hintergrunde des kleinen Gemaches, das Gesicht dem Spielzimmer zugewandt. Hans Castorp, der die ungezogene Frau nicht ohne Mißbilligung betrachten konnte, dachte bei sich: Sie erinnert mich an irgend etwas, doch kann ich nicht sagen, an was . . . Ein langer Mensch von etwa dreißig Jahren und mit gelichtetem Haupthaar spielte an dem kleinen braunen Pianoforte dreimal hintereinander den Hochzeits-marsch aus dem »Sommernachtstraum«, und als einige Damen ihn darum baten, begann er das melodiöse Stück zum vierten-mal, nachdem er einer nach der anderen tief und schweigend in die Augen geblickt hatte.

»Ist es erlaubt, sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen, In-genieur?« fragte Settembrini, welcher, die Hände in den Hosen-taschen, zwischen den Gästen umhergeschlendert war und nun vor Hans Castorp hintrat . . . Noch immer trug er seinen grauen, I lausartigen Rock und die hell karierten Beinkleider. Er lächelte bei seiner Anrede, und wieder empfand Hans Castorp etwas wie Ernüchterung beim Anblick dieses fein und spöttisch gekräusel-ten Mundwinkels unter der Biegung des schwarzen Schnurrbar-tes. Übrigens blickte er den Italiener ziemlich blöde, mit schlaf-Munde und rotgeäderten Augen an.

»Ach, Sie sind es«, sagte er, »der Herr vom Morgenspazier-gang, den wir bei dieser Bank da oben . . . beim Wasserlauf . . Natürlich, ich habe Sie sofort wieder erkannt. Wollen Sie glau-ben«, fuhr er fort, obgleich er wohl einsah, daß er es nicht hätte sagen dürfen, »daß ich Sie damals im ersten Augenblick für einen Drehorgelmann gehalten habe? . . . Das war natürlich der reine Unsinn«, setzte er hinzu, da er sah, daß Settembrinis Blick einen kühl forschenden Ausdruck annahm, »- eine furchtbare Dummheit, mit einem Wort! Es ist mir sogar vollständig unbe-greiflich, wie in aller Welt ich . . .«

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»Beunruhigen Sie sich nicht, es hat nichts zu sagen«, erwider-te Settembrini, nachdem er den jungen Mann noch einen Au-genblick schweigend betrachtet hatte. »Und wie haben Sie also Ihren Tag verbracht, - den ersten Ihres Aufenthaltes an diesem Lustorte?«

»Ich danke sehr. Ganz vorschriftsmäßig«, antwortete Hans Castorp. »Vorwiegend auf ›horizontale Art‹, wie Sie es mit Vor-liebe nennen sollen.«

Settembrini lächelte. »Es mag sein, daß ich mich gelegentlich so ausgedrückt habe«, sagte er. »Nun, und Sie fanden sie kurz-weilig, diese Lebensweise?«

»Kurzweilig und langweilig, wie Sie nun wollen«, erwiderte Hans Castorp. »Das ist zuweilen schwer zu unterscheiden, wis-sen Sie. Ich habe mich durchaus nicht gelangweilt, - dazu ist es doch ein allzu munterer Betrieb bei Ihnen hier oben. Man be-kommt so viel Neues und Merkwürdiges zu hören und zu se-hen . . . Und doch ist mir auch andererseits wieder, als ob ich nicht nur einen Tag, sondern schon längere Zeit hier wäre, - ge-radezu, als ob ich hier schon älter und klüger geworden wäre, so kommt es mir vor.«

»Klüger auch?« sagte Settembrini und zog die Brauen hoch. »Wollen Sie mir die Frage erlauben: Wie alt sind Sie eigent-lich?«

Aber siehe da, Hans Castorp wußte es nicht! Er wußte im Augenblick nicht, wie alt er sei, trotz heftiger, ja verzweifelter Anstrengungen, sich darauf zu besinnen. Um Zeit zu gewinnen, ließ er sich die Frage wiederholen und sagte dann:

» . . . Ich . . . wie alt? Ich bin natürlich im vierundzwanzig-sten. Demnächst werde ich vierundzwanzig. Verzeihen Sie, ich bin müde!« sagte er. »Und Müdigkeit ist noch gar nicht der Ausdruck für meinen Zustand. Kennen Sie das, wenn man träumt und weiß, daß man träumt, und zu erwachen sucht und nicht aufwachen kann? Genau so ist mir zumut. Unbedingt muß ich Fieber haben, anders kann ich es mir gar nicht erklären. Wollen Sie glauben, daß ich bis zu den Knien hinauf kalte Füße habe? Wenn man so sagen darf, denn die Knie sind ja natürlich nicht mehr die Füße, - entschuldigen Sie, ich bin im höchsten Grade konfus, und das ist ja auch am Ende kein Wunder, wenn man schon am frühen Morgen mit dem . . . mit dem Pneumothorax angepfiffen wird und nachher die Reden dieses Herrn

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Albin mit anhört und obendrein in horizontaler Lage. Denken Sie, mir ist immer, als dürfte ich meinen fünf Sinnen nicht mehr recht trauen, und ich muß sagen, das geniert mich noch mehr, als die Hitze im Gesicht und die kalten Füße. Sagen Sie mir offen: halten Sie es für möglich, daß Frau Stöhr achtund-zwanzig Fischsaucen zu machen versteht? Ich meine nicht, ob sie sie wirklich machen kann, - das halte ich für ausgeschlos-sen -, sondern ob sie es auch nur wirklich vorhin bei Tische be-hauptet hat oder ob es mir nur so vorkam, - nur das möchte ich wissen.«

Settembrini sah ihn an. Er schien nicht zugehört zu haben. Wieder hatten seine Augen »sich festgesehen«, waren in eine fixe und blinde Einstellung geraten, und wie heute morgen sagte er je dreimal, »so, so, so« und »sieh, sieh, sieh«, - spöttisch-nachdenklich und mit scharfem S-Laut.