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»Vierundzwanzig sagten Sie?« fragte er dann . . .

»Nein, achtundzwanzig!« sagte Hans Castorp. »Achtund-zwanzig Fischsaucen! Nicht Saucen im allgemeinen, sondern speziell Fischsaucen, das ist das Ungeheuerliche.«

»Ingenieur!« sagte Settembrini zornig und ermahnend. »Nehmen Sie sich zusammen und lassen Sie mich mit diesem liederlichen Unsinn in Ruhe! Ich weiß nichts davon und will nichts davon wissen. - Im vierundzwanzigsten, sagten Sie? I Im . . . gestatten Sie mir noch eine Frage oder einen unmaß-geblichen Vorschlag, wenn Sie so wollen. Da der Aufenthalt Ihnen nicht zuträglich zu sein scheint, da Sie sich körperlich und, wenn mich nicht alles täuscht, auch seelisch nicht wohl bei uns befinden, - wie wäre es denn da, wenn Sie darauf verzichteten, hier älter zu werden, kurz, wenn Sie noch heute nacht wieder aufpackten und sich morgen mit den fahrplanmäßigen Schnell-zügen auf- und davonmachten?«

»Sie meinen, ich sollte abreisen?« fragte Hans Castorp . . . "Wo ich gerade erst angekommen bin? Aber nein, wie will ich denn urteilen nach dem ersten Tage!«

Zufällig blickte er ins Nebenzimmer bei diesen Worten und sah dort Frau Chauchat von vorn, ihre schmalen Augen und breiten Backenknochen. Woran, dachte er, woran und an wen in aller Welt erinnert sie mich nur. Aber sein müder Kopf wußte die Frage trotz einiger Anstrengung nicht zu beantworten.

»Natürlich fällt es mir nicht so ganz leicht, mich bei Ihnen

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hier oben zu akklimatisieren«, fuhr er fort, »das war doch vor-auszusehen, und deshalb gleich die Flinte ins Korn zu werfen, nur weil ich vielleicht ein paar Tage ein bißchen verwirrt und heiß sein werde, da müßte ich mich ja schämen, geradezu feig würde ich mir vorkommen, und außerdem ginge es gegen alle Vernunft, - nein, sagen Sie selbst . . .«

Er sprach auf einmal sehr eindringlich, mit erregten Schulter-bewegungen, und schien den Italiener bestimmen zu wollen, seinen Vorschlag in aller Form zurückzunehmen.

»Ich salutiere der Vernunft«, antwortete Settembrini. »Ich sa-lutiere übrigens auch dem Mute. Was Sie sagen, läßt sich wohl hören, es dürfte schwer sein, etwas Triftiges dagegen einzuwen-den. Auch habe ich wirklich schöne Fälle von Akklimatisation beobachtet. Da war im vorigen Jahre Fräulein Kneifer, Ottilie Kneifer, durchaus von Familie, die Tochter eines höheren Staatsfunktionärs. Sie war wohl anderthalb Jahre hier und hatte sich so vortrefflich eingelebt, daß sie, als ihre Gesundheit voll-kommen hergestellt war - denn das kommt vor, man wird zu-weilen gesund hier oben -, daß sie auch dann noch um keinen Preis fort wollte. Sie bat den Hofrat von ganzer Seele, noch bleiben zu dürfen, sie könne und möge nicht heim, hier sei sie zu Hause, hier sei sie glücklich; da aber lebhafter Zudrang herrschte und man ihr Zimmer benötigte, so war ihr Flehen umsonst, und man beharrte darauf, sie als gesund zu entlassen. Ottilie bekam hohes Fieber, sie ließ ihre Kurve tüchtig anstei-gen. Allein man entlarvte sie, indem man ihr das gebräuchliche Thermometer mit einer ›Stummen Schwester‹ vertauschte - Sie wissen noch nicht, was das ist, es ist ein Thermometer ohne Be-zifferung, der Arzt kontrolliert es, indem er ein Maß daran legt, und zeichnet die Kurve dann selbst. Ottilie, mein Herr, hatte 36,9, Ottilie war fieberfrei. Da badete sie im See, - wir schrie-ben Anfang Mai damals, wir hatten Nachtfröste, der See war nicht geradezu eiskalt, er hatte genaugenommen ein paar Grad über Null. Sie blieb eine gute Weile im Wasser, um dies oder jenes abzubekommen, - allein der Erfolg? Sie war und blieb gesund. Sie schied in Schmerz und Verzweiflung, unzugänglich den Trostworten ihrer Eltern. ›Was soll ich da unten?‹ rief sie wiederholt. ›Hier ist meine Heimat!‹ Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist . . . Aber mir scheint, Sie hören mich nicht, Inge-nieur? Es kostet Sie Mühe, sich auf den Beinen zu halten, wenn

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mich nicht alles täuscht. Leutnant, hier haben Sie ihren Vetter!« wandte er sich zu Joachim, der eben herantrat. »Führen Sie ihn zu Bette! Er vereinigt Vernunft und Mut, aber heute abend ist er ein wenig hinfällig.«

»Nein, wirklich, ich habe alles verstanden!« beteuerte Hans Castorp. »Die ›Stumme Schwester‹ ist also nur eine Quecksil-bersäule, ganz ohne Bezifferung, - Sie sehen, ich habe es voll-kommen aufgefaßt!« Aber dann fuhr er doch mit Joachim im Lift hinauf, zusammen mit mehreren Patienten, - die Gesellig-keit war beendet für heute, man ging auseinander und suchte Hallen und Loggien auf, zur abendlichen Liegekur. Hans Castorp ging mit auf Joachims Zimmer. Der Boden des Korridors mit dem Kokosläufer vollführte sanfte Wellenbewegungen un-ter seinen Füßen, aber er empfand es nicht weiter unangenehm. Er setzte sich in Joachims großen geblümten Lehnstuhl - ein solcher Stuhl stand auch in seinem eigenen Zimmer - und zün-dete sich eine Maria Mancini an. Sie schmeckte nach Leim, nach Kohle und manchem anderen, nur nicht, wie sie sollte; doch fuhr er trotzdem fort, sie zu rauchen, während er zusah, wie Joachirn sich zur Liegekur fertig machte, seine litewka-artige Hausjoppe anlegte, darüber einen älteren Paletot zog und dann und der Nachttischlampe und seinem russischen Übungsbuch auf den Balkon hinausging, wo er das Lämpchen einschaltete und auf dem Liegestuhl, das Thermometer im Munde, sich mit erstaunlicher Gewandtheit in zwei große Kamelhaardecken zu wickeln begann, die über den Stuhl gebreitet waren. Hans Castorp sah mit aufrichtiger Bewunderung, wie geschickt er es aus-führte. Er schlug die Decken, eine nach der anderen, zuerst von links der Länge nach bis unter die Achsel über sich, hierauf von unten über die Füße und dann von rechts, so daß er endlich ein vollkommen ebenmäßiges und glattes Paket bildete, aus dem nur Kopf, Schultern und Arme hervorsahen.

»Das machst du ja ausgezeichnet«, sagte Hans Castorp.

»Es ist die Übung«, antwortete Joachim, indem er beim Sprechen das Thermometer mit den Zähnen festhielt. »Du lernst es auch. Morgen müssen wir uns unbedingt ein paar Decken für dich besorgen. Du kannst sie unten schon wieder brauchen, und hier bei uns sind sie unerläßlich, besonders da du ja keinen Pelzsack hast.«

»Ich lege mich aber bei Nacht nicht auf den Balkon«, erklärte

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Hans Castorp. »Das tue ich nicht, ich sage es dir gleich. Es wür-de mir gar zu sonderbar vorkommen. Alles hat seine Grenzen. Und irgendwie muß ich ja schließlich auch markieren, daß ich nur zu Besuch bin bei euch hier oben. Ich sitze hier noch etwas und rauche meine Zigarre, wie es sich gehört. Sie schmeckt mi-serabel, aber ich weiß, daß sie gut ist, und das muß mir für heute genügen. Jetzt ist die Uhr gleich neun, - allerdings, leider ist es noch nicht mal neun. Aber wenn es halb zehn ist, dann ist es ja schon so weit, daß man halbwegs normalerweise zu Bett gehen kann.«

Ein Frostschauer überlief ihn, - einer und dann mehrere rasch hintereinander. Hans Castorp sprang auf und lief zum Wandthermometer, als gelte es, ihn in flagranti zu ertappen. Nach Réaumur waren neun Grad im Zimmer. Er faßte die Röh-ren an und fand sie tot und kalt. Er murmelte etwas Ungeord-netes, des Inhalts, wenn auch August sei, so sei es doch eine Schande, daß nicht geheizt werde, denn nicht auf den Monats-namen komme es an, den man eben schreibe, sondern auf die herrschende Temperatur, und die sei so, daß ihn friere wie einen Hund. Aber sein Gesicht brannte. Er setzte sich wieder; stand nochmals auf, bat murmelnd um Erlaubnis, Joachims Bettdecke nehmen zu dürfen, und breitete sie sich, im Stuhle sitzend, über den Unterkörper. So saß er, hitzig und fröstelnd, und quälte sich mit der widerlich schmeckenden Zigarre. Ein großes Elendsge-fühl überkam ihn: ihm war, als sei es ihm noch nie im Leben so schlecht ergangen. »Das ist ja ein Elend!« murmelte er. Dazwi-schen aber berührte ihn plötzlich ein ganz absonderlich aus-schweifendes Gefühl der Freude und Hoffnung, und als er es empfunden hatte, saß er nur noch da, um zu warten, ob es nicht vielleicht wiederkäme. Es kam aber nicht wieder; nur das Elend blieb. Und so stand er denn schließlich auf, warf Joachims Dek-ke aufs Bett zurück, murmelte verzerrten Mundes etwas wie »Gute Nacht!« und »Erfriere nur nicht!« und »Zum Frühstück holst du mich ja wohl wieder« und schwankte über den Korri-dor in sein Zimmer hinüber.