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Beim Auskleiden sang er vor sich hin, jedoch nicht aus Fröh-lichkeit. Mechanisch und ohne den rechten Bedacht erledigte er die kleinen Handgriffe und kulturellen Pflichten der Nachttoi-lette, goß hellrotes Mundwasser aus dem Reiseflakon ins Glas und gurgelte diskret, wusch sich die Hände mit seiner guten

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und milden Veilchenseife und zog das lange Batisthemd an, das auf der Brusttasche mit den Buchstaben H C bestickt war. Dann legte er sich und löschte das Licht, indem er seinen heißen, ver-störten Kopf auf das Sterbekissen der Amerikanerin zurückfal-len ließ.

Aufs bestimmteste hatte er erwartet, daß er sogleich in Schlaf sinken werde, doch stellte sich das als Irrtum heraus, und seine Lider, die er vorhin kaum offenzuhalten vermocht hatte, - jetzt wollten sie durchaus nicht geschlossen bleiben, sondern öffne-ten sich unruhig zuckend, sobald er sie senkte. Es war noch nicht seine gewohnte Schlafenszeit, sagte er sich, und dann hatte er wohl tagsüber zuviel gelegen. Auch wurde draußen ein Tep-pich geklopft, - was ja wenig wahrscheinlich und in der Tat überhaupt nicht der Fall war; sondern es erwies sich, daß sein Herz es war, dessen Schlag er außer sich und weit fort im Freien hörte, genau so, als werde dort draußen ein Teppich mit einem geflochtenen Rohrklopfer bearbeitet.

Es war im Zimmer nicht völlig dunkel geworden; der Schein der Lämpchen draußen in den Logen, bei Joachim und bei dem Paare vom Schlechten Russentisch, fiel durch die offene Bal-kontür herein. Und während Hans Castorp mit blinzelnden Li-dern auf dem Rücken lag, erneute sich ihm plötzlich ein Ein-druck, ein einzelner des Tages, eine Beobachtung, die er mit Schrecken und Zartgefühl sogleich zu vergessen gesucht hatte. Es war der Ausdruck, den Joachims Gesicht angenommen hatte, als von Marusja und ihren körperlichen Eigenschaften die Rede gewesen war, - diese ganz eigentümliche klägliche Verzerrung seines Mundes nebst fleckigem Erblassen seiner gebräunten Wangen. Hans Castorp verstand und durchschaute, was es be-deutete, verstand und durchschaute es auf eine so neue, einge-hende und intime Art, daß der Rohrklopfer da draußen seine Schläge sowohl der Schnelligkeit wie der Stärke nach verdop-pelte und beinahe die Klänge des Abendständchens in »Platz« übertäubte - denn es war wieder Konzert in jenem Hotel dort Unten; eine symmetrisch gebaute und abgeschmackte Operet-tenmelodie klang durch das Dunkel herüber, und Hans Castorp pfiff sie im Flüstertone mit (man kann ja flüsternd pfeifen),

während er mit seinen kalten Füßen unter dem Federdeckbett den Takt dazu schlug.

Das war natürlich die rechte Art nicht einzuschlafen, und

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Hans Castorp spürte auch gar keine Neigung dazu. Seit er auf so neuartige und lebhafte Weise verstanden, warum Joachim sich verfärbt hatte, schien die Welt ihm neu, und jenes Gefühl aus-schweifender Freude und Hoffnung berührte ihn wieder in sei-nem Innersten. Übrigens wartete er noch auf etwas, ohne sich recht zu fragen, worauf. Als er aber hörte, wie die Nachbarn zur Rechten und Linken die abendliche Liegekur beendeten und ih-re Zimmer aufsuchten, um die horizontale Lage draußen mit derjenigen drinnen zu vertauschen, gab er vor sich selbst der Überzeugung Ausdruck, daß das barbarische Ehepaar Frieden halten werde. Ich kann ruhig einschlafen, dachte er. Sie werden heute abend Frieden halten, das erwarte ich aufs bestimmteste! Aber sie taten es nicht, und Hans Castorp hatte es auch gar nicht aufrichtig gedacht, ja, die Wahrheit zu sagen, hätte er es persön-lich und seinerseits nicht einmal verstanden, wenn sie Frieden gegeben hätten. Trotzdem erging er sich in tonlos hervorgesto-ßenen Ausrufen des heftigsten Erstaunens über das, was er hörte. »Unerhört!« rief er ohne Stimme. »Das ist enorm! Wer hätte dergleichen für möglich gehalten?« Und zwischendurch betei-ligte er sich wieder mit flüsternden Lippen an der abgeschmack-ten Operettenmelodie, die hartnäckig herübertönte.

Später kam der Schlummer. Aber mit ihm kamen die krausen Traumbilder, noch krausere als in der ersten Nacht, aus denen er des öfteren schreckhaft oder einem wirren Einfall nachjagend emporfuhr. Ihm träumte, er sähe Hofrat Behrens mit krummen Knien und steif nach vorn hängenden Armen die Gartenpfade dahinwandeln, indem er seine langen und gleichsam öde anmu-tenden Schritte einer fernen Marschmusik anpaßte. Als der Hofrat vor Hans Castorp stehenblieb, trug er eine Brille mit dicken, kreisrunden Gläsern und faselte Ungereimtes. »Zivilist natürlich«, sagte er und zog, ohne um Erlaubnis zu bitten, Hans Castorps Augenlid mit Zeige- und Mittelfinger seiner riesigen Hand herunter. »Ehrsamer Zivilist, wie ich gleich bemerkte. Aber nicht ohne Talent, gar nicht ohne Talent zur erhöhten All-gemeinverbrennung! Würde mit den Jährchen nicht geizen, den flotten Dienstjährchen bei uns hier oben! Na, nun mal hoppla die Herren und los mit dem Lustwandel!« rief er, indem er seine beiden enormen Zeigefinger in den Mund steckte und so ei-gentümlich wohllautend darauf pfiff, daß von verschiedenen Seiten und in verkleinerter Gestalt die Lehrerin und Miß Ro-

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binson durch die Lüfte geflogen kamen und sich ihm rechts und links auf die Schultern setzten, wie sie im Speisesaal rechts und links von Hans Castorp saßen. So ging der Hofrat mit hüpfen-den Tritten davon, wobei er mit einer Serviette hinter die Brille fuhr, um sich die Augen zu wischen, - man wußte nicht, was da zu trocknen war, ob Schweiß oder Tränen.

Dann schien es dem Träumenden, als befinde er sich auf dem Schulhof, wo er so viele Jahre hindurch die Pausen zwischen den Unterrichtsstunden verbracht, und sei im Begriffe, sich von Madame Chauchat, die ebenfalls zugegen war, einen Bleistift zu leihen. Sie gab ihm den rotgefärbten, nur noch halblangen in einem silbernen Crayon steckenden Stift, indem sie Hans Castorp mit angenehm heiserer Stimme ermahnte, ihn ihr nach der Stunde bestimmt zurückzugeben, und als sie ihn ansah, mit ih-ren schmalen blaugraugrünen Augen über den breiten Backen-knochen, da riß er sich gewaltsam aus dem Traum empor, denn nun hatte er es und wollte es festhalten, wovon und an wen sie ihn eigentlich so lebhaft erinnerte. Eilig brachte er die Erkennt-nis für morgen in Sicherheit, denn er fühlte, daß Schlaf und Traum ihn wieder umfingen, und sah sich alsbald in der Lage, Zuflucht vor Dr. Krokowski suchen zu müssen, der ihm nach-stellte, um Seelenzergliederung mit ihm vorzunehmen, wovor Hans Castorp eine tolle, eine wahrhaft unsinnige Angst emp-fand. Er floh vor dem Doktor behinderten Fußes an den Glas-wänden vorbei durch die Balkonlogen, sprang mit Gefahr seines Lebens in den Garten hinab, suchte in seiner Not sogar die rot-hraune Flaggenstange zu erklettern und erwachte schwitzend in dem Augenblick, als der Verfolger ihn am Hosenbein packte.

Kaum jedoch hatte er sich ein wenig beruhigt und war wieder eingeschlummert, als sich der Sachverhalt folgendermaßen für ihn gestaltete: Er bemühte sich, mit der Schulter Settembrini vom Fleck zu drängen, welcher dastand und lächelte, - fein, trocken und spöttisch, unter dem vollen, schwarzen Schnurrbart, dort, wo er sich in schöner Rundung aufwärts bog, und dieses Lächeln eben war es, was Hans Castorp als Beeinträchtigung empfand. »Sie stören!« hörte er sich deutlich sagen. »Fort mit Ihnen! Sie sind nur ein Drehorgelmann, und Sie stören hier!« Allein Settembrini ließ sich nicht von der Stelle drängen, und Hans Castorp stand noch, um nachzudenken, was hier zu tun sei, als ihm ganz unverhofft die ausgezeichnete Einsicht zuteil