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wurde, was eigentlich die Zeit ist: nämlich nichts anderes, als einfach eine Stumme Schwester, eine Quecksilbersäule ganz oh-ne Bezifferung, für diejenigen, welche mogeln wollten, - wor-über er mit dem bestimmten Vorhaben erwachte, seinem Vetter Joachim morgen von diesem Funde Mitteilung zu machen.

Unter solchen Abenteuern und Entdeckungen verging die Nacht, und auch Hermine Kleefeld sowie Herr Albin und Hauptmann Miklosich, welch letzterer Frau Stöhr in seinem Ra-chen davontrug und von Staatsanwalt Paravant mit einem Spee-re durchbohrt wurde, spielten ihre verworrene Rolle dabei. Ei-nen Traum aber träumte Hans Castorp sogar zweimal in dieser Nacht und zwar beide Male genau in derselben Form, - das letztemal gegen Morgen. Er saß im Saal mit den sieben Tischen, als unter dem größten Geschmetter die Glastür ins Schloß fiel und Madame Chauchat hereinkam, im weißen Sweater, die eine Hand in der Tasche, die andere am Hinterkopf. Statt aber zum Guten Russentische zu gehen, bewegte die unerzogene Frau sich ohne Laut auf Hans Castorp zu und reichte ihm schweigend die Hand zum Kusse, - aber nicht den Handrücken reichte sie ihm, sondern das Innere, und Hans Castorp küßte sie in die Hand, in ihre unveredelte, ein wenig breite und kurzfingerige Hand mit der aufgerauhten Haut zu Seiten der Nägel. Da durchdrang ihn wieder von Kopf bis zu Fuß jenes Gefühl von wüster Süßigkeit, das in ihm aufgestiegen war, als er zur Probe sich des Druckes der Ehre ledig gefühlt und die bodenlosen Vorteile der Schande genossen hatte, - dies empfand er nun wieder in seinem Traum, nur ungeheuer viel stärker.

Viertes Kapitel
Notwendiger Einkauf

»Jetzt ist euer Sommer zu Ende?« fragte Hans Castorp am drit-ten Tag ironisch seinen Vetter . . .

Es war ein schrecklicher Wettersturz.

Der zweite Tag, den der Hospitant vollständig hier oben ver-lebt hatte, war prächtig-sommerlich gewesen. Tiefblau leuchtete der Himmel über den lanzenartigen Wipfeltrieben der Fichten, während die Ortschaft im Talgrunde grell in der Hitze schim-merte und das Geläut der Kühe, die umherwandelnd das kurze, erwärmte Mattengras der Lehnen rupften, heiter beschaulich die Lüfte erfüllte. Die Damen waren schon zum ersten Frühstück in zarten Waschblusen erschienen, einige sogar mit durchbroche-nen Ärmeln, was nicht alle gleich gut gekleidet hatte, - Frau Stöhr zum Beispiel kleidete es entschieden schlecht, ihre Arme waren zu schwammig. Duftigkeit der Kleidung eignete sich nun einmal nicht für sie. Auch die Herrenwelt des Sanatoriums hatte der schönen Witterung auf verschiedene Weise in ihrem Äuße-ren Rechnung getragen. Lüsterjacken und leinene Anzüge waren aufgetaucht, und Joachim Ziemßen hatte elfenbeinfarbene Flanellhosen zu seinem blauen Rock getragen, eine Zusammen-stellung, die seiner Erscheinung ein vollständig militärisches Gepräge verlieh. Was Settembrini betraf, so hatte er zwar wie-derholt das Vorhaben geäußert, den Anzug zu wechseln. »Teu-fel!« hatte er gesagt, als er nach dem Lunch mit den Vettern in den Ort hinunterpromenierte, »wie die Sonne brennt! Ich sehe, ich werde mich leichter kleiden müssen.« Aber trotzdem es ge-wählt ausgedrückt war, hatte er nach wie vor seinen langen Flaus mit den großen Aufschlägen und seine gewürfelten Bein-kleider anbehalten, - wahrscheinlich war das alles, was er an Garderobe besaß.

Am dritten Tage jedoch war es genau, als ob die Natur zu Falle gebracht und jede Ordnung auf den Kopf gestellt würde; Hans Castorp traute seinen Augen nicht. Es war nach der Hauptmahlzeit, und man befand sich seit zwanzig Minuten in

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der Liegekur, als die Sonne sich eilig verbarg, häßlich torfbrau-nes Gewölk über die südöstlichen Kämme heraufzog und ein Wind von fremder Luftbeschaffenheit, kalt und das Gebein er-schreckend, als käme er aus unbekannten, eisigen Gegenden, plötzlich durch das Tal fegte, die Temperatur umstürzte und ein ganz neues Regiment eröffnete.

»Schnee«, sagte Joachims Stimme hinter der Glaswand.

»Was meinst du mit ›Schnee‹?« fragte Hans Castorp darauf. »Du willst doch nicht sagen, daß es jetzt schneien wird?«

»Sicher«, antwortete Joachim. »Den Wind, den kennen wir. Wenn der kommt, dann gibt es Schlittenbahn.«

»Unsinn!« sagte Hans Castorp. »Wenn mir recht ist, so schreiben wir Anfang August.«

Aber Joachim hatte wahr gesprochen, eingeweiht, wie er war in die Verhältnisse. Denn binnen wenigen Augenblicken setzte unter wiederholten Gewitterschlägen ein gewaltiges Schneetrei-ben ein, - ein Gestöber, so dicht, daß alles in weißen Dampf gehüllt erschien und man von Ortschaft und Tal fast nichts mehr erblickte.

Es schneite den ganzen Nachmittag fort. Die Zentralheizung ward angezündet, und während Joachim seinen Pelzsack in Be-nutzung nahm und sich im Kurdienste nicht stören ließ, flüch-tete sich Hans Castorp in das Innere seines Zimmers, rückte ei-nen Stuhl an die erwärmten Röhren und blickte von dort unter häufigem Kopfschütteln in das Unwesen hinaus. Am nächsten Morgen schneite es nicht mehr; aber obgleich das Außenther-mometer einige Wärmegrade zeigte, war der Schnee doch fuß-hoch liegengeblieben, so daß eine vollkommene Winterland-schaft sich vor Hans Castorps verwunderten Blicken ausbreitete. Man hatte die Heizung wieder ausgehen lassen. Die Zimmer-temperatur betrug sechs Grad über Null.

»Ist jetzt euer Sommer zu Ende?« fragte Hans Castorp seinen Vetter mit bitterer Ironie . . .

»Das kann man nicht sagen«, erwiderte Joachim sachlich. »Will's Gott, so wird es noch schöne Sommertage geben. Selbst im September ist das noch sehr wohl möglich. Aber die Sache ist die, daß die Jahreszeiten hier nicht so sehr voneinander ver-schieden sind, weißt du, sie vermischen sich sozusagen und hal-ten sich nicht an den Kalender. Im Winter ist oft die Sonne so stark, daß man schwitzt und den Rock auszieht beim Spazieren-

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gehen, und im Sommer, nun, das siehst du ja schon, wie es im Sommer hier manchmal ist. Und dann der Schnee - er bringt alles durcheinander. Es schneit im Januar, aber im Mai nicht viel weniger, und im August schneit es auch, wie du bemerkst. Im ganzen kann man sagen, daß kein Monat vergeht, ohne daß es schneit, das ist ein Satz, an dem man festhalten kann. Kurz, es gibt Wintertage und Sommertage und Frühlings- und Herbstta-ge, aber so richtige Jahreszeiten, die gibt es eigentlich nicht bei uns hier oben.«

»Das ist ja eine schöne Konfusion«, sagte Hans Castorp. Er ging in Überschuhen und Winterpaletot mit seinem Vetter in den Ort hinab, um sich Decken für die Liegekur zu besorgen, denn es war klar, daß er bei dieser Witterung mit seinem Plaid nicht auskommen werde. Vorübergehend erwog er sogar, ob er nicht zum Kauf eines Pelzsackes schreiten solle, nahm dann aber Abstand davon, ja, schreckte gewissermaßen vor dem Gedanken zurück.

»Nein, nein«, sagte er, »bleiben wir bei den Decken! Ich werde unten schon wieder Verwendung für sie haben, und Decken hat man ja überall, es ist weiter nichts so Besonderes oder Auf-regendes dabei. Aber so ein Pelzsack ist etwas gar zu Spezielles, versteh mich recht, wenn ich mir einen Pelzsack anschaffe, käme ich mir selber vor, als ob ich mich hier häuslich niederlassen wollte und schon gewissermaßen zu euch gehörte . . . Kurz, ich will nichts weiter sagen, als daß es ja absolut nicht lohnen wür-de, für die paar Wochen eigens einen Pelzsack zu kaufen.«

Joachim stimmte dem zu, und so erstanden sie denn in ei-nem hübschen, reichhaltigen Geschäft des Englischen Viertels zwei solche Kamelhaardecken, wie Joachim sie hatte, ein beson-ders langes und breites, angenehm weiches Fabrikat in Naturfar-be, und gaben Order, daß sie sofort ins Sanatorium gesandt werden sollten, ins Internationale Sanatorium »Berghof«, Zim-mertür 34. Gleich heute nachmittag wollte Hans Castorp sie zum erstenmal in Gebrauch nehmen.