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Natürlich war es um die Zeit nach dem zweiten Frühstück, denn sonst bot die Tagesordnung keine Gelegenheit, in den Ort hinunterzugehen. Es regnete jetzt, und der Schnee auf den Stra-ßen hatte sich in spritzenden Eisbrei verwandelt. Auf dem Heimwege holten sie Settembrini ein, welcher unter einem Re-genschirm, wenn auch barhäuptig, ebenfalls dem Sanatorium

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zustrebte. Der Italiener sah gelb aus und befand sich ersichtlich in elegischer Stimmung. In reinen und wohlgeformten Worten jammerte er über die Kälte, die Nässe, unter der er so bitter litt. Wenn wenigstens geheizt würde! Aber diese elenden Machtha-ber ließen die Heizung ja ausgehen, sobald es zu schneien auf-höre, - eine stumpfsinnige Regel, ein Hohn auf alle Vernunft! Und als Hans Castorp einwandte, er denke sich, daß eine mäßi-ge Zimmertemperatur wohl zu den Kurprinzipien gehöre, -man wolle einer Verwöhnung der Patienten offenbar damit vorbeugen, da antwortete Settembrini mit dem heftigsten Spott. Ei, in der Tat, die Kurprinzipien. Die hehren und unantastbaren Kurprinzipien! Hans Castorp spreche wahrhaftig in dem richti-gen Tone von ihnen, nämlich in dem der Religiosität und der Unterwürfigkeit. Nur auffallend - wenn auch in einem durch-aus erfreulichen Sinne auffallend -, daß gerade diejenigen unter ihnen so unbedingte Verehrung genössen, die mit den ökono-mischen Interessen der Gewalthaber genau übereinstimmten, -während man denen gegenüber, bei denen dies weniger zutref-fe, ein Auge zuzudrücken geneigt sei . . . Und während die Vet-tern lachten, kam Settembrini auf seinen verstorbenen Vater zu sprechen, im Zusammenhang mit der Wärme, nach der er sich sehnte.

»Mein Vater«, sagte er gedehnt und schwärmerisch, - »er war ein so feiner Mann, - empfindlich am Körper wie an der Seele! Wie liebte er im Winter sein kleines, warmes Studierstübchen, von Herzen liebte er es, stets mußten zwanzig Grad Réaumur darin herrschen, vermöge eines rotglühenden Öfchens, und wenn man an naßkalten Tagen oder an solchen, wenn der schneidende Tramontanawind ging, vom Flure des Häuschens her eintrat, so legte die Wärme sich einem wie ein linder Mantel um die Schultern, und die Augen füllten sich mit wohligen Tränen. Vollgepfropft war das Stübchen mit Büchern und Handschriften, worunter sich große Kostbarkeiten befanden, und zwischen den Geistesschätzen stand er in seinem Schlafrock aus blauem Flanell am schmalen Pult und widmete sich der Li-teratur, - zierlich und klein von Person, einen guten Kopf klei-ner als ich, stellen Sie sich vor! aber mit dicken Büscheln aus grauem Haar an den Schläfen und einer Nase, so lang und fein . . . Welch ein Romanist, meine Herren! Einer der Ersten seiner Zeit, ein Kenner unserer Sprache wie wenige, ein lateini-

scher Stilist wie sonst keiner mehr, ein uomo letterato nach Boccaccios Herzen . . . Von weither kamen die Gelehrten, um sich mit ihm zu besprechen, der eine aus Haparanda, ein anderer aus Krakau, sie kamen ausdrücklich nach Padua, unserer Stadt, um ihm Hochachtung zu erweisen, und er empfing sie mit freundlicher Würde. Auch ein Dichter von Distinktion war er, welcher in seinen Mußestunden Erzählungen in der elegante -sten toskanischen Prosa verfaßte, - ein Meister des idioma gen-tile«, sagte Settembrini mit äußerstem Genuß, indem er die hei-matlichen Silben langsam auf der Zunge zergehen ließ und den Kopf dabei hin und her bewegte. »Sein Gärtchen baute er nach dem Beispiele Virgils«, fuhr er fort, »und was er sprach, war ge-sund und schön. Aber warm, warm mußte er es haben in seinem Stübchen, sonst zitterte er und konnte wohl Tränen vergie-ßen vor Ärger, daß man ihn frieren ließ. Und nun stellen Sie sich vor, Ingenieur, und Sie, Leutnant, was ich, der Sohn meines Vaters, an diesem verdammten und barbarischen Orte leiden muß, wo der Körper im hohen Sommer vor Kälte zittert und erniedrigende Eindrücke beständig die Seele foltern! Ach, es ist hart! Welche Typen, die uns umgeben! Dieser närrische Teufels-knecht von Hofrat Krokowski« - und Settembrini tat, als müsse er sich die Zunge zerbrechen - »Krokowski, dieser schamlose Beichtvater, der mich haßt, weil meine Menschenwürde mir verbietet, mich zu seinem pfäffischen Unwesen herzugeben . . . Und an meinem Tische . . . Welche Gesellschaft, in der ich zu speisen gezwungen bin! Zu meiner Rechten sitzt ein Bierbrauer aus Halle - Magnus ist sein Name - mit einem Schnurrbart, der einem Heubündel ähnelt. ›Lassen Sie mich mit der Literatur in Ruhe!‹ sagt er. ›Was bietet sie? Schöne Charaktere! Was fang' ich mit schönen Charakteren an! Ich bin ein praktischer Mann, und schöne Charaktere kommen im Leben fast gar nicht vor.‹ Dies ist die Vorstellung, die er sich von der Literatur gebildet hat. Schöne Charaktere . . . o Mutter Gottes! Seine Frau, ihm gegenüber, sitzt da und verliert Eiweiß, während sie mehr und mehr in Stumpfsinn versinkt. Es ist ein schmutziger Jammer . . .«

Ohne daß sie sich miteinander verständigt hätten, waren Joachim und Hans Castorp eines Sinnes über diese Reden: sie fan-den sie wehleidig und unangenehm aufrührerisch, freilich auch unterhaltsam, ja bildend in ihrer kecken und wortscharfen Auf-

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sässigkeit. Hans Castorp lachte gutmütig über das »Heubündel« und auch über die »schönen Charaktere«, oder vielmehr über die drollig verzweifelte Art, in der Settembrini davon sprach. Dann sagte er:

»Gott, ja, die Gesellschaft ist wohl ein bißchen gemischt in so einer Anstalt. Man kann sich die Tischnachbarn nicht aussuchen, - wohin sollte denn das auch führen. An unserem Tisch sitzt auch so eine Dame . . . Frau Stöhr, - ich denke mir, daß Sie sie kennen? Mörderlich ungebildet ist sie, das muß man ja sagen, und manchmal weiß man nicht recht, wo man hinsehen soll, wenn sie so plappert. Und dabei klagt sie sehr über ihre Tempe-ratur und daß sie so schlaff ist, und ist wohl leider gar kein ganz leichter Fall. Das ist so sonderbar, - krank und dumm -, ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke, aber mich mutet es ganz eigentümlich an, wenn einer dumm ist und dann auch noch krank, wenn das so zusammenkommt, das ist wohl das Trübseligste auf der Welt. Man weiß absolut nicht, was man für ein Gesicht machen soll, denn einem Kranken möchte man doch Ernst und Achtung entgegenbringen, nicht wahr, Krank-heit ist doch gewissermaßen etwas Ehrwürdiges, wenn ich so sagen darf. Aber wenn nun immer die Dummheit dazwischen kommt mit ›Fomulus‹ und ›kosmische Anstalt‹ und solchen Schnitzern, da weiß man wahrhaftig nicht mehr, ob man wei-nen oder lachen soll, es ist ein Dilemma für das menschliche Gefühl und so kläglich, daß ich es gar nicht sagen kann. Ich meine, es reimt sich nicht, es paßt nicht zusammen, man ist nicht gewohnt, es sich zusammen vorzustellen. Man denkt, ein dummer Mensch muß gesund und gewöhnlich sein, und Krankheit muß den Menschen fein und klug und besonders machen. So denkt man es sich in der Regel. Oder nicht? Ich sage da wohl mehr, als ich verantworten kann«, schloß er. »Es ist nur, weil wir zufällig darauf kamen . . .« Und er verwirrte sich.

Auch Joachim war etwas verlegen, und Settembrini schwieg mit erhobenen Augenbrauen, indem er sich den Anschein gab, als warte er aus Höflichkeit das Ende der Rede ab. In Wirklich-keit hatte er es darauf abgesehen, Hans Castorp erst völlig aus dem Konzept kommen zu lassen, bevor er antwortete:

»Sapristi, Ingenieur, Sie legen da philosophische Gaben an den Tag, deren ich mich gar nicht von Ihnen versehen hätte! Ihrer Theorie zufolge müßten Sie weniger gesund sein, als Sie

sich den Anschein geben, da sie offenbar Geist besitzen. Erlau-ben Sie mir aber, Ihnen zu bemerken, daß ich Ihren Deduktio-nen nicht folgen kann, daß ich sie ablehne, ja ihnen in wirkli-cher Feindseligkeit gegenüberstehe. Ich bin, wie Sie mich da se-hen, ein wenig unduldsam in geistigen Dingen und lasse mich lieber einen Pedanten schelten, als daß ich Ansichten unbe-kämpft ließe, die mir so bekämpfenswert scheinen wie die von Ihnen entwickelten . . .«