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»Aber, Herr Settembrini . . .«

»Ge-statten Sie mir . . . Ich weiß, was Sie sagen wollen. Sie wollen sagen, daß Sie es so ernst nicht gemeint haben, daß die von Ihnen vertretenen Anschauungen nicht ohne weiteres die Ihren sind, sondern daß Sie gleichsam nur eine der möglichen und in der Luft schwebenden Anschauungen aufgriffen, um sich unverantwortlicherweise einmal darin zu versuchen. So ent-spricht es Ihrem Alter, welches männlicher Entschlossenheit noch entraten und vorderhand mit allerlei Standpunkten Versu-che anstellen mag. Placet experiri«, sagte er, indem er das c von »placet« weich, nach italienischer Mundart sprach. »Ein guter Satz. Was mich stutzig macht, ist eben nur die Tatsache, daß Ihr Experiment sich gerade in dieser Richtung bewegt. Ich bezweif-le, daß hier Zufall waltet. Ich befürchte das Vorhandensein einer Neigung, die sich charaktermäßig zu befestigen droht, wenn man ihr nicht entgegentritt. Darum fühle ich mich verpflichtet, Sie zu korrigieren. Sie äußerten, Krankheit und Dummheit ge-paart sei das Trübseligste auf der Welt. Ich kann Ihnen das zuge-ben. Auch mir ist ein geistreicher Kranker lieber als ein schwindsüchtiger Dummkopf Aber mein Protest beginnt, wenn Sie Krankheit mit Dummheit im Verein gewissermaßen als einen Stilfehler betrachten, als eine Geschmacksverirrung der Na-tur und ein Dilemma für das menschliche Gefühl, wie Sie sich aus-zudrücken beliebten. Wenn Sie Krankheit für etwas so Vorneh-mes und - wie sagten Sie doch - Ehrwürdiges zu halten scheinen, daß sie sich mit Dummheit schlechterdings nicht zusammen-reimt. Dies war ebenfalls Ihr Ausdruck. Nun denn, nein! Krankheit ist durchaus nicht vornehm, durchaus nicht ehrwürdig, -diese Auffassung ist selbst Krankheit oder sie führt dazu. Viel-leicht rufe ich am sichersten Ihren Abscheu gegen sie wach, wenn ich Ihnen sage, daß sie betagt und häßlich ist. Sie rührt aus abergläubisch zerknirschten Zeiten her, in denen die Idee des

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Menschlichen zum Zerrbild entartet und entwürdigt war, angst-vollen Zeiten, denen Harmonie und Wohlsein als verdächtig und teuflisch galten, während Bresthaftigkeit damals einem Freibrief zum Himmelreich gleichkam. Vernunft und Aufklä-rung jedoch haben diese Schatten vertrieben, welche auf der Seele der Menschheit lagerten, - noch nicht völlig, sie liegen noch heute im Kampfe mit ihnen; dieser Kampf aber heißt Arbeit, mein Herr, irdische Arbeit, Arbeit für die Erde, für die Eh-re und die Interessen der Menschheit, und täglich aufs neue ge-stählt in solchem Kampfe, werden jene Mächte den Menschen vollends befreien und ihn auf den Wegen des Fortschrittes und der Zivilisation einem immer helleren, milderen und reineren Lichte entgegenleiten.«

Donnerwetter, dachte Hans Castorp bestürzt und beschämt, das ist ja eine Arie! Womit habe ich denn das herausgefordert? Etwas trocken kommt es mir übrigens vor. Und was er nur immer mit der Arbeit will. Immer hat er es mit der Arbeit, ob-gleich es doch wenig hierher paßt. Und er sagte:

»Sehr schön, Herr Settembrini. Es ist geradezu hörenswert, wie Sie das so zu sagen wissen. Man könnte es gar nicht. . . gar nicht plastischer ausdrücken, meine ich.«

»Rückneigung«, setzte Settembrini wieder ein, indem er sei-nen Regenschirm über den Kopf eines Vorübergehenden hin-weghob, »geistige Rückneigung in die Anschauungen jener fin-steren, gequälten Zeiten - glauben Sie mir, Ingenieur, das ist Krankheit, - eine sattsam erforschte Krankheit, für welche die Wissenschaft verschiedene Namen besitzt, einen aus der Schön-heits- und Seelenlehre und einen aus der Politik, - Schulaus-drücke, die nichts zur Sache tun und deren Sie gern entraten mögen. Da aber im Geistesleben alles zusammenhängt und eines sich aus dem andern ergibt, da man dem Teufel nicht den kleinen Finger reichen darf, ohne daß er die ganze Hand nimmt und den ganzen Menschen dazu ... da andererseits ein gesun-des Prinzip immer nur lauter Gesundes zeitigen kann, gleich-viel, welches man nun an den Anfang stelle, - so prägen Sie es sich ein, daß Krankheit, weit entfernt, etwas Vornehmes, etwas allzu Ehrwürdiges zu sein, um mit Dummheit leidlicherweise verbunden sein zu dürfen, vielmehr Erniedrigung bedeutet, - ja, eine schmerzliche, die Idee verletzende Erniedrigung des Menschen, die man im Einzelfalle schonen und betreuen möge, aber

die geistig zu ehren Verirrung - prägen Sie sich das ein! - eine Verirrung und aller geistigen Verirrung Anfang ist. Diese Frau, deren Sie Erwähnung taten, - ich verzichte darauf, mich ihres Namens zu entsinnen - Frau Stöhr also, ich danke sehr - kurz-um, diese lächerliche Frau, - nicht ihr Fall ist es, wie mir scheint, der das menschliche Gefühl, wie Sie sagten, in ein Dilemma versetzt. Krank und dumm, - in Gottes Namen, das ist die Misere selbst, die Sache ist einfach, es bleibt nichts als Er-barmen und Achselzucken. Das Dilemma, mein Herr, die Tragik beginnt, wo die Natur grausam genug war, die Harmonie der Persönlichkeit zu brechen - oder von vornherein unmöglich zu machen -, indem sie einen edlen und lebenswilligen Geist mit einem zum Leben nicht tauglichen Körper verband. Kennen Sie Leopardi, Ingenieur, oder Sie, Leutnant? Ein unglücklicher Dich-lor meines Landes, ein bucklichter, kränklicher Mann mit ur-sprünglich großer, durch das Elend seines Körpers aber beständig gedemütigter und in die Niederungen der Ironie herabgezoge-ner Seele, deren Klagen das Herz zerreißen. Hören Sie dieses!«

Und Settembrini begann, italienisch zu rezitieren, indem er die schönen Silben auf der Zunge zergehen ließ, den Kopf hin und her bewegte und zuweilen die Augen schloß, unbeküm-mert darum, daß seine Begleiter kein Wort verstanden. Sichtlich war es ihm darum zu tun, sein Gedächtnis und seine Aussprache selbst zu genießen und vor den Zuhörern zur Geltung zu brin-gen. Endlich sagte er:

»Aber Sie verstehen nicht, Sie hören, ohne den schmerzli-chen Sinn zu erfassen. Der Krüppel Leopardi, meine Herren, empfinden Sie dies ganz, entbehrte vor allem der Frauenliebe, und dies war es wohl namentlich, was ihn unfähig machte, der Verkümmerung seiner Seele zu steuern. Der Glanz des Ruhmes und der Tugend verblaßte ihm, die Natur erschien ihm böse -übrigens ist sie böse, dumm und böse, ich gebe ihm recht hierin -, und er verzweifelte - es ist furchtbar zu sagen -, er verzweifelte an Wissenschaft und Fortschritt! Hier haben Sie Tragik, Ingenieur. Hier haben Sie Ihr ›Dilemma für das menschliche Ge-fühl‹, - nicht bei jener Frau dort, - ich lehne es ab, mein Gedächtnis um ihren Namen zu bemühen . . . Sprechen Sie mir nicht von der ›Vergeistigung‹, die durch Krankheit hervorge-bracht werden kann, um Gottes willen, tun Sie es nicht! Eine Seele ohne Körper ist so unmenschlich und entsetzlich, wie ein

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Körper ohne Seele, und übrigens ist das erstere die seltene Aus-nahme und das zweite die Regel. In der Regel ist es der Körper, der überwuchert, der alle Wichtigkeit, alles Leben an sich reißt und sich aufs widerwärtigste emanzipiert. Ein Mensch, der als Kranker lebt, ist nur Körper, das ist das Widermenschliche und Erniedrigende, - er ist in den meisten Fällen nichts Besseres als ein Kadaver . . .«

»Komisch«, sagte Joachim plötzlich, indem er sich vorbeugte, um seinen Vetter anzusehen, der an Settembrinis anderer Seite ging. »Etwas ganz Ähnliches hast du doch neulich auch gesagt.«

»So?« sagte Hans Castorp. »Ja, es kann ja wohl sein, daß mir was Ähnliches auch schon durch den Kopf ging.«