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Settembrini schwieg während einiger Schritte. Dann sagte er:

»Desto besser, meine Herren. Desto besser, wenn dem so ist. Die Absicht lag mir fern, Ihnen irgendwelche Originalphiloso-phie vorzutragen, - das ist nicht meines Amtes. Wenn unser In-genieur schon seinerseits Übereinstimmendes angemerkt hat, so bestätigt dies nur meine Mutmaßung, daß er geistig dilettiert, daß er nach Art begabter Jugend mit den möglichen Anschau-ungen vorläufig nur Versuche anstellt. Der begabte junge Mensch ist kein unbeschriebenes Blatt, er ist vielmehr ein Blatt, auf dem gleichsam mit sympathetischer Tinte alles schon ge-schrieben steht, das Rechte wie das Schlechte, und Sache des Er-ziehers ist es, das Rechte entschieden zu entwickeln, das Falsche aber, das hervortreten will, durch sachgemäße Einwirkung auf immer auszulöschen. Die Herren haben Einkäufe gemacht?« fragte er veränderten, leichten Tones . . .

»Nein, nichts weiter«, sagte Hans Castorp, »das heißt . . .«

»Wir haben ein paar Decken für meinen Vetter besorgt«, ant-wortete Joachim gleichgültig.

»Für die Liegekur . . . Bei dieser Hundekälte . . . Ich soll ja mitmachen die paar Wochen«, sagte Hans Castorp lachend und sah zu Boden.

»Ah, Decken, Liegekur«, sagte Settembrini. »So, so, so. Ei, ei, ei. In der Tat: Placet experiri!« wiederholte er mit italienischer Aussprache und verabschiedete sich, denn sie hatten, begrüßt von dem hinkenden Concierge, das Sanatorium betreten, und in der Halle schwenkte Settembrini in die Konversationsräume ab, um vor Tische die Zeitungen zu lesen, wie er sagte. Die zweite Liegekur schien er schwänzen zu wollen.

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»Gott bewahre!« sagte Hans Castorp, als er mit Joachim im Lift stand. »Das ist wirklich ein Pädagog, - er sagte es ja neulich schon selbst, daß er so eine Ader habe. Man muß furchtbar auf-passen mit ihm, daß man kein Wort zu viel sagt, sonst gibt es ausführliche Lehren. Aber hörenswert ist es ja, wie er zu spre-chen versteht, jedes Wort springt ihm so rund und appetitlich vom Munde, - ich muß immer an frische Semmeln denken, wenn ich ihm zuhöre.«

Joachim lachte.

»Das sage ihm lieber nicht. Ich glaube doch, er wäre ent-täuscht, zu erfahren, daß du an Semmeln denkst bei seinen Leh-rcn.«

»Meinst du? Ja, das ist noch gar nicht mal sicher. Ich habe immer den Eindruck, daß es ihm nicht ganz allein um die Lehren zu tun ist, vielleicht um sie erst in zweiter Linie, sondern besonders um das Sprechen, wie er die Worte springen und rol-len läßt... so elastisch wie Gummibälle . . . und daß es ihm gar nicht unangenehm ist, wenn man namentlich auch darauf achtet. Bierbrauer Magnus ist ja wohl etwas dumm mit seinen ›schö-nen Charakteren‹, aber Settembrini hätte doch sagen sollen, worauf es denn eigentlich ankommt in der Literatur. Ich mochte nicht fragen, um mir keine Blöße zu geben, ich verstehe mich ja auch nicht weiter darauf und hatte bis jetzt noch nie einen Lite-raten gesehen. Aber wenn es nicht auf die schönen Charaktere ankommt, so kommt es offenbar auf die schönen Worte an, das ist mein Eindruck in Settembrinis Gesellschaft. Was er für Vo-kabeln gebraucht! Ganz ohne sich zu genieren, Spricht er von ›Tugend‹ - ich bitte dich! Mein ganzes Leben lang habe ich das Wort noch nicht in den Mund genommen, und selbst in der Schule haben wir immer bloß ›Tapferkeit‹ gesagt, wenn ›virtus‹ im Buche stand. Es zog sich etwas zusammen in mir, das muß ich sagen. Und dann macht es mich etwas nervös, wenn er so schimpft, auf die Kälte und auf Behrens und auf Frau Magnus, weil sie Eiweiß verliert, und kurz, auf alles. Er ist ein Opposi-tionsmann, darüber war ich mir gleich im klaren. Er hackt auf alles Bestehende, und das hat immer etwas Verwahrlostes, ich kann mir nicht helfen.«

»Das sagst du so«, antwortete Joachim bedächtig. »Aber dann hat er doch wieder auch etwas Stolzes, was gar nicht verwahrlost anmutet, sondern im Gegenteil, er ist doch ein Mensch, der auf

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sich hält, oder auf die Menschen im allgemeinen, und das ge-fällt mir an ihm, das hat was Anständiges in meinen Augen.«

»Da hast du recht«, sagte Hans Castorp. »Er hat sogar etwas Strenges, - es wird einem öfter ganz ungemütlich, weil man sich - sagen wir maclass="underline" kontrolliert fühlt, doch, das ist gar keine schlechte Bezeichnung. Willst du glauben, daß ich immer das Gefühl hatte, er wäre nicht einverstanden damit, daß ich mir Decken zum Liegen gekauft habe, er hätte etwas dagegen und hielte sich irgendwie darüber auf?«

»Nein«, sagte Joachim erstaunt besonnen. »Wie könnte das wohl sein. Das kann ich mir doch nicht denken.« Und dann ging er, das Thermometer im Munde, mit Sack und Pack in die Liegekur, während Hans Castorp gleich begann, sich für die Mittagsmahlzeit zu säubern und umzukleiden, - es war ohne-dies nur noch ein knappes Stündchen bis dahin.

Exkurs über den Zeitsinn

Als sie vom Essen wieder heraufkamen, lag das Paket mit den Decken schon in Hans Castorps Zimmer auf einem Stuhl, und zum erstenmal machte er an diesem Tage Gebrauch davon, -der geübte Joachim erteilte ihm Unterricht in der Kunst, sich einzupacken, wie es alle hier oben machten und jeder Neuling es gleich erlernen mußte. Man breitete die Decken, eine und dann die andere, über das Stuhllager, so daß sie am Fußende ein reichliches Stück auf den Boden hingen. Dann nahm man Platz und begann, die innere um sich zu schlagen: zuerst der Länge nach bis unter die Achsel, hierauf von unten über die Füße, wo-bei man sich sitzend bücken und das gefaltete Ende doppelt fas-sen mußte, und dann von der anderen Seite, wobei der doppelte Fußzipfel gut an den Längsrand zu passen war, wenn die größtmögliche Glätte und Ebenmäßigkeit erzielt werden sollte. Danach beobachtete man genau dasselbe Verfahren bei der äu-ßeren Decke, - ihre Handhabung war etwas schwieriger, und Hans Castorp, als Stümper und Anfänger, ächzte nicht wenig, indem er, sich bückend und wieder ausstreckend, die Griffe üb-te, die man ihm lehrte. Nur einige wenige Altgediente, sagte Joachim, könnten beide Decken gleichzeitig mit drei sicheren Be-wegungen um sich schleudern, aber das sei eine seltene und ge-neidete Fertigkeit, zu der nicht nur langjährige Übung, sondern

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auch eine natürliche Anlage gehöre. Über dies Wort mußte

Hans Castorp lachen, während er mit schmerzendem Rücken

sich zurückfallen ließ, und Joachim, der nicht gleich verstand,

was hier komisch war, sah ihn unsicher an, lachte dann aber

auch.

»So«, sagte er, als Hans Castorp ungegliedert und walzenför-mig, die nachgiebige Rolle im Nacken und erschöpft von all der Gymnastik im Stuhle lag, »wenn es nun zwanzig Grad Kälte hätte, so könnte dir auch nichts passieren.« Und dann ging er hinter die Glaswand, um sich ebenfalls einzupacken.

Das mit den zwanzig Grad Kälte bezweifelte Hans Castorp, denn ihn fror entschieden, Schauer überliefen ihn wiederholt, während er durch die Holzbögen in die sickernde, nieselnde Nässe dort draußen blickte, die jeden Augenblick auf dem Punkte schien, wieder in Schneefall überzugehen. Wie sonder-bar übrigens, daß er bei all der Feuchtigkeit immer noch so trockenhitzige Backen hatte, als säße er in einem überheizten Zimmer. Auch fühlte er sich lächerlich angegriffen von den Übungen mit den Decken, - wahrhaftig, »Ocean steamships« zitterte ihm in den Händen, sobald er es vor die Augen führte. So überaus gesund war er doch eben auch nicht, - total an-ämisch, wie Hofrat Behrens gesagt hatte, und deswegen neigte er wohl auch so zum Froste. Die unangenehmen Empfindungen jedoch wurden aufgewogen durch die große Bequemlichkeit seiner Lage, die schwer zu zergliedernden und fast geheimnis-vollen Eigenschaften des Liegestuhles, die Hans Castorp beim ersten Versuche schon mit höchstem Beifall empfunden hatte, und die sich wieder aufs glücklichste bewährten. Lag es an der Beschaffenheit der Polster, der richtigen Neigung der Rücken-lehne, der passenden Höhe und Breite der Armstützen oder auch nur der zweckmäßigen Konsistenz der Nackenrolle, genug, es konnte für das Wohlsein ruhender Glieder überhaupt nicht humaner gesorgt sein als durch diesen vorzüglichen Liegestuhl. Und so war denn Zufriedenheit in Hans Castorps Herzen darüber, daß zwei leere und sicher gefriedete Stunden vor ihm la-gen, diese durch die Hausordnung geheiligten Stunden der Hauptliegekur, die er, obgleich nur zu Gaste hier oben, als eine ihm ganz gemäße Einrichtung empfand. Denn er war geduldig von Natur, konnte lange ohne Beschäftigung wohl bestehen und liebte, wie wir uns erinnern, die freie Zeit, die von betäu-